piwik no script img

Die unverwendbaren Verräter

Gilles Perraults Spionagestudie über die „Rote Kapelle“  ■ Von Klaus Bittermann

Nichts ist für die Geschichtsschreibung schwieriger, als über die Tätigkeit, den Erfolg und Mißerfolg eines Geheimdienstes zu berichten, ohne den Anspruch der „objektiven Wahrheitsfindung“ aufzugeben. Da an solchen Organisationen selbst die Auflösung oder Zerschlagung geheim ist, ist ein gesichertes Urteil über sie kaum möglich. Während über jedes Ereignis, das dem Historiker von Interesse scheint, Dokumente, Briefe und Zeugnisse Aufschluß geben und eine detaillierte Rekonstruktion erlauben, gibt es über Geheimdienste in der Regel nichts dergleichen. Dokumente können gefälscht sein, um den Gegner zu verwirren, Briefe können unter Zwang geschrieben worden sein und Zeugnisse nur Interpretationen eines Zeitgenossen, den die Eitelkeit verführt, die Erinnerung in Stich gelassen oder der noch eine alte Rechnung zu begleichen hat. Kein Staat läßt sich gerne in die Karten schauen, öffnet seine Archive oder gibt freiwillig Auskunft über seine Informationsquellen und Mitarbeiter, selbst wenn deren Tätigkeit schon mehr als fünfzig Jahre zurückliegt.

Skepsis ist also zunächst angebracht, wenn es um Die Spuren der Roten Kapelle von Gilles Perrault geht, einem Buch über den sowjetischen Geheimdienst in Westeuropa während des Nationalsozialismus, das bereits 1969 auf Deutsch erschien und nun mit einem Nachwort und Ergänzungen neu herausgegeben wurde.

Obwohl Perrault in den Augen seiner Kollegen den Fehler begeht, der Geschichte der Roten Kapelle nicht unparteiisch gegenüberzustehen und nicht einmal seine Sympathien wie Antipathien für die Protagonisten verheimlicht, hat er auf kolportierende Geschichtsschreibung weitgehend verzichtet. Drei Jahre hat Perrault intensive Recherchen betrieben, nahm Akteneinsicht und reiste in ganz Europa umher, um die Überlebenden der konkurrierenden und sich bekämpfenden Geheimorganisationen zu befragen. Zwar konnte er weder das Archiv des KGB einsehen, in dem die Lösung vieler Rätsel vor sich hinschlummert, noch war es ihm möglich, alle seine Quellen zu nennen, aber es entsteht nie der Eindruck der Hochstapelei. Man muß sich vorstellen, daß Mitte der sechziger Jahre, zur Zeit der Recherchen Perraults, die Kontaktaufnahme zu ehemaligen Geheimdienstoffizieren nicht ganz einfach war. Nicht nur, daß bei ihren ehemaligen Arbeitgebern oder auch bei Nachrichtenorganisationen des Auslands an ihnen noch lebhaftes Interesse bestand, sie selbst hielten Perrault in der Regel für einen Agenten, dem man mit Vorsicht und Mißtrauen begegnete. Perrault gelang allerdings etwas, woran die meisten Nachrichtenorganisationen scheiterten: Er fand den Chef der Roten Kapelle: Leiba Domb alias Leopold Trepper, bekannt als der Grand Chef.

Die Rote Kapelle war eines der weitverzweigtesten Spionagenetze während des Zweiten Weltkriegs, das dem sogenannten „Direktor“ in Moskau äußerst wichtiges Material über die militärische Lage lieferte, die den Kriegsverlauf nicht unerheblich beeinflußten. Als der deutschen Abwehr langsam das Ausmaß der sowjetischen Spionage klar wurde, mußte sie alle Mittel ihres Apparats einsetzen, um den Informationsfluß möglichst schnell zu unterbinden. Selbst Hitler mußte anerkennen (am 17.Mai 1942): „Die Bolschewiken sind uns auf einem einzigen Gebiete überlegen: in der Spionage.“ Daß sich die Organisation Treppers fast nur aus Juden zusammensetzte, widerlegt dabei als List in den Fußnoten der Geschichte ein allgemein verbreitetes Vorurteil, demzufolge die Juden sich wie Lämmer zur Schlachtbank führen ließen. Himmler war klar, daß die Mitglieder der Roten Kapelle laut ihres Chefs „mit den Nazis eine besondere Rechnung zu begleichen hatten“, und deshalb beauftragte er seine Polizei nicht nur, „mit dem jüdischen Pack aufzuräumen“, sondern er erließ auch die schriftliche Order, „alle Mittel aufzuwenden, um ein Geständnis zu erzwingen“, der einzige Fall, in dem der Reichsführer-SS seine Unterschrift unter ein Dokument gesetzt hat, das die Folter bis zum Eintritt des Todes ausdrücklich erlaubte.

Das im Geheimdienstjargon als „Kapelle“ bezeichnete Spionagenetz, in dem der Funker als „Pianist“ und das Funkgerät als „Spieluhr“ eine wichtige Rolle spielen, wurde Ende der dreißiger Jahre aufgebaut und hatte seine Zentralen in Brüssel, Amsterdam, Paris, Berlin, Lyon und Marseille. Der schwache Punkt jeder Spionageorganisation war die Funkverbindung, und der höchst gefährdete Mann war der Pianist. Als die ersten Funksprüche von den Deutschen aufgefangen wurden, konnten sie wenig damit anfangen. Es fehlte ihnen der Schlüssel zum Text. Die mit der Spionageabwehr beauftragten Polizeioffiziere waren Amateure, und groteske Kompetenzstreitigkeiten innerhalb verschiedener zuständiger Dienststellen führten anfänglich zu einem Desaster für Berlin. Erst am 13.Dezember 1941 gelang den Deutschen der erste entscheidende Schlag gegen die Rote Kapelle. In der Rue des Atrébates Nr. 101 in Brüssel kreuzten sich die Einfallswinkel der verschiedenen Peilgeräte. Dem die Aktion leitenden Oberleutnant Piepe, den Perrault ausführlichst interviewt hat, fielen nicht nur das Funkgerät und der Pianist in die Hände, sondern auch eine ganze Paßfälscherwerkstatt, Codes, Geheimunterlagen und einige Mitglieder des Netzes, u.a. einer seiner Leiter: Carlos Alamo.

Obwohl nach Einschätzung von Walter Schellenberg, dem ehemaligen Chef des Auslandsnachrichtendienstes der SS, „eine wirkliche Zerstörung dieses hydraähnlichen Spionagerings (...) bis zum Ende des Krieges niemals gelungen“ ist, bedeutete der Schlag in der Rue des Atrébates den Anfang vom Ende der Roten Kapelle. Trepper, der um ein Haar in die Falle getappt wäre, gründete in Paris, wie schon vorher in Brüssel, eine Art Export-Imoport- Firma als Tarnunternehmen, das mit dem Nachschubunternehmen der Wehrmacht, der Organisation Todt, regen Handel trieb — eine Tätigkeit, die selbst wieder Teil der Spionage war und Kontakte knüpfte zu führenden Leuten, die zu unfreiwilligen und ahnungslosen Informanten des „Direktors“ in Moskau werden. Durch Spezialisten der Spionageabwehr, die von Berlin nach Paris beordert wurden und mittels der neuartigen Peilgeräte, von denen Trepper keine Ahnung hatte, weshalb er von Verrat in den eigenen Reihen ausging, zog sich der Kreis um den Grand Chef und seine Mitarbeiter in Paris immer enger.

Am 24.November 1942 schließlich geht Trepper den Deutschen während eines Zahnarzttermins ins Netz. Trepper wird nicht gefoltert, erklärt sich jedoch sofort zur Mitarbeit bereit. Er verrät allerdings keinen Namen, wie Perrault detailliert nachweist, sondern nur das Organisationsprinzip der Roten Kapelle. Selbst das beeindruckt die von Berlin angereisten Spezialisten. In einem Bericht an die Zentrale heißt es: „Alle von uns vorher im Westen gesammelten Erfahrungen erwiesen sich als wertlos. Es stellte sich heraus, daß die Russen meisterhaft gearbeitet hatten. Daher war es für die Abwehr notwendig, die Grundsätze kennenzulernen, die der Schulung und Einschleusung sowjetischer Agenten zugrunde lagen: Grundsätze, die den Offizieren der Abwehr unbekannt waren...“

Und hier beginnt das „Große Spiel“, das seinen Ausgangspunkt in der Umdrehung feindlicher Agenten hat, die, zur Zusammenarbeit mit den Nazis gezwungen, falsche Informationen nach Moskau funken sollen. In diesem Spiel ist nichts mehr eindeutig. So ist Trepper nach den Unterlagen der Spionageabwehr ein Verräter, der skrupellos seine Leute ans Messer lieferte. Aber sowohl die überlebenden Mitglieder der Roten Kapelle als auch die der deutschen Abwehr bestreiten den Verrat Treppers. „Wenn Sie diese ganze Geschichte begreifen wollen, dürfen Sie nicht ein Wort von dem glauben, was in den Gestapo-Berichten über den Grand Chef steht“, teilte ein Vernehmungsbeamter Perrault mit. Die Berichte der Abwehr waren nämlich für die Berliner Zentrale bestimmt als Begründung dafür, daß sie auf die wertvolle Mitarbeit Treppers nicht verzichten wollten, den sie ansonsten heim ins Reich hätten verschicken müssen. Darüber war sich wiederum Trepper im Klaren, der natürlich alles daran setzte, nicht in den Kellern der Berliner Gestapo zu landen. Ein riskantes und raffiniertes Schachspiel begann. Daß Trepper auf seinem taktischen Rückzug einige Bauernopfer brachte, um den Nazis seine Bereitschaft zur Mitarbeit zu signalisieren, kann nicht ohne weiteres von der Hand gewiesen werden. Fest steht jedenfalls, daß einen Tag später weitere Mitglieder der Roten Kapelle verhaftet werden und kurze Zeit darauf die Gruppe in Lyon zerschlagen wird.

Sofort nach Treppers Verhaftung fliegt Gestapo-Müller nach Paris, um persönlich den Vorsitz bei der ersten Vernehmung zu führen. An diesem Abend im Gestapo-Quartier der Rue des Saussaies wird Trepper folgendes eröffnet: „Wir haben verspielt. Sie haben nicht nur Ihr Spiel gegen uns verloren. Sie sind auch für Moskau ein erledigter Mann. Schon seit langem glaubt man Ihnen dort nicht mehr. (...) Wir, die Gestapo, besitzen das Vertrauen Moskaus — nicht Sie.“ Trepper schien das bereits vorhergesehen zu haben. Also beteiligt er sich am Vorhaben der Deutschen, durch ein ausgeklügeltes Funkspiel die Gegensätze bei den Alliierten zu verschärfen, um möglichst das Bündnis von innen her zu sprengen. Ohne sich dabei völlig auf die Seite der Deutschen zu schlagen, verfaßt er einen ausführlichen Kassiber für Moskau, den er auf einem seiner beschatteten Freigänge einer Kontaktperson der französischen KP übergeben kann. Am 13.September 1943 gelingt es Trepper zu fliehen. Als Agent ohne Netz und von der Moskauer Zentrale zum Verräter gestempelt, irrt er durch Paris, aber es

Fortsetzung nächste Seite

Fortsetzung

gelingt der Gestapo nicht, ihn wieder einzufangen.

Die Treue Treppers zu Moskau ist dennoch unerschütterlich und heute schwer nachzuvollziehen. Sie beruht jedoch nicht auf kritikloser Unterwürfigkeit, sondern auf der ehernen Überzeugung eines Kommunisten, für den es an der Sache im Kampf gegen den Faschismus nichts zu rütteln gab. Nach Kriegsende kehrt er nach Moskau zurück und landet dort für zehn Jahre in der Lubjanka. Fast alle überlebenden wichtigen Mitarbeiter seiner Organisation befinden sich dort, auch wenn sie der größten Folter standgehalten haben. Allein ihr Entkommen ist dem KGB verdächtig. Auch Treppers ehemaliger Gegenspieler von der Gestapo bewohnt nicht weit von ihm eine Zelle. In weiser Voraussicht, daß der Krieg verloren war, hatte er rechtzeitig die Fronten gewechselt, in der Hoffnung, vom KGB mit offenen Armen empfangen zu werden. Aber im Gegensatz zu den Geheimdiensten der westlichen Alliierten ließ sich Stalin nicht auf diesen Kuhhandel ein.

Perrault besticht durch eine ungeheure Materialfülle, aber er versteht es, sie so zu arrangieren, daß sein Bericht an keiner Stelle langweilig wird. Wie in Manès Sperbers Wie eine Träne im Ozean folgt man immer wieder aufs neue, fassungslos und staunend, den Winkelzügen und Geheimabsprachen, dem scheiternden Heroismus und dem voreiligen Verrat. Die von Perrault aufgezeichneten Wechselfälle des Schicksals würden in jedem Roman unglaubwürdig erscheinen. Nur manchmal keimt leichtes Mißtrauen gegen den Autor auf, wenn seine offensichtliche Sypatmhie für den Protagonisten Fragen übergeht oder unbeantwortet läßt, mit denen er seinen Helden hätte konfrontieren müssen. Das der neuen Ausgabe beigefügte Nachwort gibt jedoch weitgehend Aufschluß über die Gründe Perraults, sich in bestimmten Punkten bedeckt zu halten. Dort erfährt man nämlich das weitere Schicksal des ins bürgerliche Leben zurückgekehrten Leiba Domb. Nach dem Tod Stalins wurde er entlassen, kehrte nach Polen zurück und war dort Präsident der Jüdischen Kulturgemeinde. 1967 entfachte Gomulka eine antisemitische Hetzkampagne, in der er den Juden vorwarf, als „fünfte Kolonne“ den Untergang Polens herbeiführen zu wollen. Schlechte Zeiten also, mit Enthüllungen des ehemaligen sowjetischen Geheimdienst-Chefs für Westeuropa aufzuwarten, ohne unangenehme Folgen für Trepper befürchten zu müssen. Eine vom Autor initiierte Kampagne erreichte schließlich, daß Trepper 1973 ausreisen durfte, um nach Israel überzusiedeln, wo er 1982 starb.

Ein großartiges Buch über Romantiker und Kosmopoliten, denen kein Dank des Vaterlandes zuteil wurde und die als „unverwendbar“ ausgesondert wurden. Selten sind solche Glückstreffer, bei denen der Autor es versteht, in den Biographien der Beteiligten die verborgene Seite einer Epoche zum Sprechen zu bringen. Selten auch der gelassene und unprätentiöse Charakter eines Trepper, der sich in den Antworten widerspiegelte, die er dem Autor beim ersten Zusammentreffen gab: „Ich will ein Buch über Ihre Gruppe schreiben ...“ — „Wenn Sie nichts anderes zu tun haben — warum nicht?“ — „Nur wenig, das interssiert mich nicht.“ — „Würden Sie mit mir sprechen?“ — „Sprechen? Oh, sprechen können wir jederzeit ...“ — „Und was werden Sie mir erzählen?“ — „Natürlich das, was Sie schon wissen!“

Gilles Perault: Auf den Spuren der Roten Kapelle, Wien/Zürich 1990, Europaverlag, 555 S., geb. 44 DM

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen