Kriegsangst treibt Europa ins Freie

■ Bei Massendemonstrationen in fast allen europäischen Hauptstädten verlangen Hunderttausende eine nicht-militärische Lösung des Golfkonflikts/ „Krieg? — Nein!“ — „Sanktionen? — Ja!“

London/Dublin/Rom/Paris/Genf (taz) — Hunderttausende, wenn nicht Millionen, gingen am Wochenende in Westeuropa gegen den drohenden Krieg am Golf auf die Straße.

In London, Glasgow und anderen Städten Großbritanniens protestierten weit über 100.000 KriegsgegnerInnen gegen einen verheerenden Krieg.

„Wir haben Mandela aus dem Gefängnis befreit, wir haben die Berliner Mauer zum Einsturz gebracht, und wir werden auch Saddam Hussein kleinkriegen“, rief Majorie Thompson, die Vorsitzende der Kampagne für Nukleare Abrüstung (CND), am Samstag am Londoner Trafalgar Square ins Mikrofon. Die dicht gedrängten Menschenmassen bejubelten das Statement frenetisch. Bei strahlendem Sonnenschein waren sie in der größten Demonstration, die London seit langem erlebte, quer durch die City gezogen, hatten „Krieg? — Nein!“ — „Sanktionen? — Ja“ skandiert und waren dabei selbst überrascht von der eigenen Stärke, die bei den allgegenwärtigen Kriegsvorbereitungen im Lande kaum noch jemand erwartet hatte. Die Forderung nach Sanktionen statt Krieg hatte sie aus allen Ecken der britischen Friedens-, Frauen-, Christen-, Marxistengruppen hervorgeholt. Aus eigener Erfahrung in Großbritanniens starker Anti-Apartheid- Bewegung kennen auf der Insel viele die weitreichenden Möglichkeiten langanhaltender Boykottaktionen. Nach nur fünfeinhalb Monaten hingegen, wie jetzt im Fall des Iraks, könne die Wirkung von Sanktionen noch nicht beurteilt werden, meinten RednerInnen. Ein Krieg würde Millionen Menschenleben kosten, weite Teile des Nahen Ostens und der Welt verwüsten und keinesfalls wie von Militärstrategen erhofft „in aller Kürze erledigt“ sein.

In der irischen Hauptstadt Dublin demonstrierten am Samstag Tausende für „Verhandlungen statt Eskalation“. Die Redner, darunter zahlreiche Abgeordnete, kritisierten die irische Regierung insbesondere dafür, daß sie US-amerikanischen Militärmaschinen Überflugrechte sowie die Genehmigung zum Auftanken auf dem westirischen Flughafen Shannon gewährt habe. Damit werde die in der Verfassung verankerte irische Neutralität gefährdet. Von August bis Dezember vergangenen Jahres sind 88 US-Militärflugzeuge in Shannon zum Auftanken gelandet, darunter mindestens vier Maschinen mit jeweils 1.000 Soldaten auf dem Weg zum Golf. Seit Beginn der Golfkrise haben durchschnittlich 775 US-Militärflugzeuge Irland überflogen — mehr als doppelt soviele wie in den Monaten zuvor.

Etwa 100.000 KriegsgnerInnen zogen am Samstag unter dem Motto „Italien lehnt den Krieg ab“ durch Rom, während einen Tag später ein paar Kilometer entfernt der Papst mit etwa 40.000 seiner Schäflein für eine Friedenskonferenz unter Beteiligung aller im Golfkonflikt engagierten Länder betete.

Hunderttausende trieb es auch in Frankreich ins Freie. Zwischen 200.000 (Veranstalter) und 40.000 (Polizei) bewegten sich die Schätzungen allein für Paris. Zu den Kundgebungen hatten die Kommunisten, die Grünen, Pazifisten, aber auch einige Sozialisten aufgerufen, die mit der von der sozialistischen Regierung vertretenen Politik in der Golfkrise nicht einverstanden sind. Die rechtsextreme Nationale Front, die eine irakfreundliche Position einnimmt und gegen ein französisches Engagement am Golf eintritt, verzichtete dagegen auf eine Teilnahme an den Protestveranstaltungen.

Die UNO-Stadt Genf erlebte am Samstag bei strömendem Regen die größte Demonstration seit dem ersten Gipfeltreffen Gorbatschow-Reagan im November 1985. Unter dem Slogan „Nein zum Golfkrieg — Ja zu Frieden und Verhandlungen“ demonstrierten knapp 10.000 Menschen vom historischen Stadtkern über die Rhône zum UNO- Gebäude. In einer Resolution wurde die „Kriegslogik“ verurteilt, die Irak mit seiner Invasion in Kuwait ausgelöst habe. Der UNO-Sicherheitsrat erkenne — „getrieben von den USA“ — die „Interventionsbereitschaft Washingtons“ uneingeschränkt an. Die Demonstranten forderten den Rückzug aller Truppen und die „unverzügliche und bedingungslose Einberufung einer internationalen Nahostkonferenz“. An der Demonstration nahmen auch viele UNO- MitarbeiterInnen und Angehörige diplomatischer Missionen teil, darunter auffallend viele US-AmerikanerInnen sowie BürgerInnen aus arabischen Staaten. (taz-Korrespondenten)