piwik no script img

In der Krise am Golf steckt auch eine Chance

■ Der ägyptische Soziologe Saad Eddin Ibrahim über die Zukunft des Nahen Ostens INTERVIEW

Dr. Saad Eddin Ibrahim ist einer der bekanntesten linksintellektuellen Vordenker Ägyptens. Er arbeitet als Soziologieprofessor an der Amerikanischen Universität in Kairo und ist aktives Mitglied des Arab Thought Forum. Als Verfasser zahlreicher soziologischer und politischer Veröffentlichungen über die arabische Gesellschaft hat er sich weit über die Grenzen Ägyptens hinaus einen Namen gemacht.

taz: Sie haben sich letzte Woche in der linken ägyptischen Wochenzeitschrift 'Al-Ahali‘ einem Aufruf gegen den Golfkrieg angeschlossen. Dabei haben sie besonders die Notwendigkeit einer arabischen Lösung hervorgehoben. Ist es für eine arabische Lösung nicht schon zu spät?

Saad Eddin Ibrahim: Wenn man unter einer Lösung die Vermeidung von Krieg versteht, dann ist es wahrscheinlich bereits zu spät. Ich verstehe die Krise allerdings als eine langfristige Angelegenheit. Wenn wir davon ausgehen, daß die Krise nicht am 15.1.91 vorbei ist, dann ist da immer noch Platz für eine arabische Lösung.

Wenn wir keine Alternativen entwickeln, dann entwerfen sie andere

Was verstehen Sie unter einer arabischen Lösung?

Eine Art Paket. Es geht darum, die Situation zu befrieden, den Schaden möglichst gering zu halten und vor allem darum, das Problem bei der Wurzel zu packen, um eine ähnliche Krise in Zukunft zu vermeiden. Die Krise ist nicht im Januar zu Ende. Selbst wenn es Krieg geben sollte, der große Zerstörung bedeutet, eine Menge Leiden für die Menschen und eine gewaltige Verwirrung für die Bevölkerung und für deren politische Führungen. Mit all diesen Problemen muß umgegangen werden. Es gibt also eine Menge zu tun für arabische Politiker und Praktiker. Es gilt, Alternativen zu entwickeln. Die Diskussion darüber läuft bereits seit einigen Monaten. Denn wenn wir das nicht machen, dann machen es andere.

Was heißt dies konkret? In der ägyptischen Presse ist in der letzten Zeit häufig davon die Rede, daß das Wort Krise Dilemma und Chance zugleich bedeutet. Steckt in der Krise tatsächlich auch eine Chance?

Ich denke, die Krise hat vier unterschiedliche Bereiche eröffnet. Bereiche, die schon lange einer Lösung bedurft hätten. Nun, da die Krise ausgebrochen ist, besteht eine Chance, dies zu klären.

Der erste ist ein historischer Bereich. Das ist die koloniale Aufsplitterung der arabischen Welt und die Gründung Israels mit den Folgen der Entwurzelung des palästinensischen Volkes. Dieser Bereich schreit nach Lösungen. Einige Probleme der Aufsplitterung und besonders die Palästnenserfrage müssen geschlichtet werden.

Immenser Reichtum und extreme Armut schaffen eine Ungleichheit, die eine Zeitbombe ist

Der zweite Bereich ist ein ökonomischer, die ungleiche Verteilung von Reichtum in der arabischen Welt. Wie kann die arabische Region stabil sein, wenn es auf der einen Seite Länder gibt, in denen das Pro-Kopf-Einkommen 15.000 Dollar jährlich ausmacht. Die Länder am Golf gehören zu den reichsten Ländern der Welt, und auf der anderen Seite sind da auch Länder, in denen das Pro-Kopf- Einkommen nur 500 Dollar im Jahr beträgt. Beide betrachten sich als Teil der arabischen Nation. In dieser Ungleichheit stecken potentielle Zeitbomben. Durch die Golfkrise sind einige von ihnen zumindest psychologisch gesehen explodiert.

Der dritte Bereich ist der politische. Ich meine damit die Tatsache, daß es in der Region despotische Regime gibt, die eine rationale Handhabung der Probleme verhindern. Wir haben zwei Arten dieser Regime: Modernen Despotismus, der zum Beispiel von Saddam Hussein repräsentiert wird. Er ist übrigens nicht der einzige dieser Art in der Region. Er ist modern, weil er auf einem sehr effektiven Unterdrückungsapparat beruht. Der zweite ist der traditionelle Despotismus, wie er von den Golfmonarchien repräsentiert wird. Beide Arten haben keine Verbindungen zu den Bedürfnissen der Mehrheiten der arabischen Bevölkerung und der Mittelklasse. Sie haben auch keine Verbindung zu den weltweiten Trends in Richtung Demokratisierung, Verwirklichung von Menschenrechten und anderen grundlegenden Freiheiten. Da gibt es einiges zu schlichten.

Der vierte Bereich ist ein kultureller. Es geht um den Gegensatz zwischen der arabischen Welt und dem Westen. Der Westen stellte für uns immer das feindliche Andere dar. Der Westen war immer bereit, in die Region mit allen Arten von rassistischen und religiösen Vorurteilen einzudringen. Da ist ein sehr explosiver Bereich. Auch das brachte die Krise erneut an die Oberfläche.

Der Westen stellte für uns immer das feindliche Andere dar

Alle diese vier Bereiche wurden von der Golfkrise wieder geöffnet. Sie wurden von Saddam Hussein manipuliert. Obwohl alle diese Bereiche sehr legitim sind, ist derjenige, der sie geöffnet hat, illegitim. Saddam Hussein wird in der arabischen Welt und auf internationaler Ebene allgemein nicht getraut.

Sie sprachen bisher von Bereichen, in denen Schlichtung notwendig ist. Wer soll das schlichten?

Wenn ich sage, daß Saddam Hussein nicht qualifiziert genug ist, diese Probleme zu schlichten, dann gilt das auch für die USA und den Westen. Diese Schlichtung muß von den Menschen und den aufgeklärten Kräften aus dieser Region selbst kommen. Arabische Intellektuelle haben seit mindestens zehn Jahren vor einer Explosion gewarnt. Man hat sie nicht ernst genug genommen. Kommen wir noch einmal zurück zur arabischen Lösung. Alle einflußreichen populären Kräfte, ich spreche hier von politischen Parteien, von wissenschaftlichen Instituten, von Gewerkschaften und von Berufsverbänden, haben eine Verantwortung, zu artikulieren, was getan werden muß. Sie müssen dies diskutieren und sich mit anderen ähnlichen Kräften besonders in Europa verbinden. Sie müssen Druck auf die arabischen Regime ausüben, damit sie sich in eine Richtung bewegen, die die arabische Welt gerechter, demokratischer und sicherer von innen her macht. Inteview: Karin E.-Gawhory

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen