: Meine Gasmaske und ich
Ein Brief aus Jerusalem, geschrieben in der Zeit vor dem Krieg ■ Von Edward Norden
Der Kriegsbeginn in der Nacht von Mittwoch auf Donnerstag macht folgenden Text zwar teilweise zum Anachronismus. Wir drucken ihn dennoch; die derzeitige Stimmung und Reaktionen in Israel auf die Bedrohung aus dem Irak dürfte sich in den vergangenen drei Tagen nicht wesentlich verändert haben.
Ich habe meine Gasmaske abgeholt. Zwar glaube ich nicht wirklich daran, daß Saddam seine Spielzeuge in unsere Richtung schickt, oder daß eine Gasmaske und die anderen schönen Dinge, die man ausgeteilt hat, eine große Hilfe wären, wenn wirklich eine Rakete auf oder neben meinem Haus niedergeht. Aber ein solcher Jerusalemer, ein solcher Israeli bin ich halt — wenn ich einen Stimmzettel bekomme, dann wähle ich, wenn ich meinen Einberufungsbefehl kriege, melde ich mich bei meiner Reserveeinheit, und wenn mir die Einladung ins Haus flattert, meine Gasmaske abzuholen, dann hole ich sie mir eben.
Andere, die keine schlechteren Israelis sind als ich, sehen die Situation ähnlich, ziehen aber einen anderen Schluß. Ich spreche nicht von den bärtigen Juden — hauptsächlich Orthodoxen —, die sich auch dann nicht rasieren, wenn ihr Leben davon abhängt, und die sich deshalb um die offizielle Aufforderung nicht kümmern und lieber für 200 Dollar Spezialmasken kaufen, die aus Deutschland importiert wurden. Es ist ganz in der Ordnung, daß eine deutsche Firma dieses Geschäft macht — schließlich haben andere deutsche Unternehmen Saddam geholfen, sein Gas zu entwickeln. Der harte Kern derer, die ihre Masken noch nicht abgeholt haben und es auch nicht tun wollen, besteht — soweit ich das überblicken kann — in der Hauptsache aus glattrasierten Taxifahrern.
Einer von ihnen denkt so: „Das traut er sich nicht. Schließlich haben wir Leute im Irak, die jeden seiner Schritte beobachten. Eine falsche Bewegung, und er ist hinüber. Wer mit den Juden was anfängt, zieht den kürzeren. Wie war es denn mit Nasser? Ich habe in dieser Stadt schon alles erlebt. 1948, als wir abgeschnitten waren, habe ich eine Woche nur von Pflaumen gelebt. Also hole ich mir keine Maske. Die Frau und die Enkel — ja, die vielleicht.“ Er gibt zu, daß die Behörden vermutlich hinter ihm her sein werden, weil sie ein Nein nicht akzeptieren.
Ein anderer Hartnäckiger ist ein Mann in Tel Aviv, der Treblinka überlebt hat. Aber die Verweigerer sind in der Minderheit. Wenn 85 Prozent der israelischen Juden und ein noch eindrucksvollerer Prozentsatz der israelischen Araber sich die Mühe machen, bei den Wahlen zur Knesset abzustimmen, dann haben genausoviel die Aufforderung befolgt und das Verteilungszentrum in ihrem Viertel aufgesucht. Dort bekamen sie, nachdem ihnen ein Informationsvideo vorgeführt wurde, eine Maske, eine Atropin-Spritze, Desinfektionspuder und für Kinder ein Plastikzelt, das wie ein Inkubator aussieht. Alles gratis.
Gratis für Touristen und alle, die innerhalb der Grenzen des eigentlichen Israel leben, heißt das — wenn es in diesen Tagen auch nicht viele Touristen gibt, außer den Deutschen, die Israel immer als letzte im Stich lassen. Araber in Nazareth und Jaffa, die — ob sie wollen oder nicht — israelische Staatsbürger sind, bekommen ihre Masken also umsonst, ebenso wie die Palästinenser in Ost- Jerusalem, dessen Annexion durch Israel direkt nach dem Sechs-Tage- Krieg von keiner Nation auf der Welt anerkannt worden ist. Das Etikett auf jeder Box gegen Gas und chemische Waffen ist daher nicht nur hebräisch, sondern auch in drei anderen Sprachen beschriftet: arabisch, englisch und russisch — für die Einwanderer aus der Sowjetunion, die ins Land strömen.
Der Text lautet: „Nicht öffnen! Die Öffnung dieser Box vermindert die Wirksamkeit! Lagerungshinweis: Die Gasmaske an einem trockenen, kühlen, sonnengeschützten Ort aufbewahren. Von Kindern fernhalten. Diese Box nur auf die klare Anweisung der Zivildienstleitung öffnen.“ Ein Kind in Holon, einer langweiligen Stadt am Mittelmeer, ließ sich davon natürlich nicht abhalten, die Box zu öffnen, und verletzte sich mit der Atropinspritze. Genausowenig würde es Palästinenser in den besetzten Gebieten unter militärischer Verwaltung von der Benutzung der Maske abhalten, sobald die israelischen Truppen Tränengas einsetzen, um Demonstrationen für Saddam auseinanderzutreiben.
Sowohl die israelischen Araber als auch die Palästinenser auf der anderen Seite der alten grünen Linie scheinen Saddam glühend zu verehren; sie sagen, er sollte das Gas andrehen, auch wenn die Genauigkeit seiner Raketen ziemlich gering ist, das ganze umstrittene Gebiet winzig — und eine auf Tel Aviv gezielte Rakete durchaus auch den Felsendom in Jerusalem treffen könnte. Nach fast drei Jahren Intifada und nur kärglichen Erfolgen ist die Enttäuschung der Araber ungeheuer groß. Wenn die Palästinenser in den besetzten Gebieten Masken wollen, hat die israelische Regierung angekündigt, dann werden sie pro Stück achtzig Dollar bezahlen müssen. Israelische Menschenrechtsgruppen wollen die Regierung deswegen vor Gericht bringen. Das sind so die kleinen, wenn auch nicht unwichtigen Nebenerscheinungen.
(Anfang der Woche hat die israelische Regierung begonnen, Gasmasken auch an die Palästinenser in den besetzten Gebieten zu verteilen; allerdings nur an einen Bruchteil der Bevölkerung/Anm. d. Red.).
Das eigentliche Schauspiel lief in den letzten beiden Wochen in tausenden Verteilungszentren im eigentlichen Israel ab. Das Zentrum für mein Wohnviertel in West-Jerusalem befand sich in einer höheren Schule. Teenager wiesen den Weg zu den khakigekleideten Typen von der zivilen Verteidigung, die die Boxen ausgaben und die Namen abhakten. Die Atmosphäre war geschäftig und ernsthaft, die Bürger jung und alt, Rechte und Linke, mit und ohne Käppchen. In einem verdunkelten Klassenzimmer begutachteten sie aufmerksam das informative, unerfreuliche Video, in dem eine unerschütterliche Familie die Masken anlegt und das Motto illustriert: „Sei bereit, sei beschützt!“
Außer der Anleitung zur Benutzung der Maske und des Atropins gegen Nervengas und des Puders gegen chemische Verbrennungen wird gezeigt, wie man einen Raum abdichtet und richtig ausstattet: mit Wasserflaschen, Konserven, einem Transistorradio und einem Backgammon- Brett. Wie gesagt: Keinerlei Besorgnis, während das Video lief. Danach gab es sogar einige Scherze und Hänseleien, die die Ernsthaftigkeit der Atmosphäre eher betonten, während draußen auf dem Schulhof die Kinder in der schönen reinen Luft Jerusalems auf ihren Skateboards herumratterten, so selbstvergessen wie Kinder in irgendeiner Vorstadt in den Staaten.
„Gar nichts wird passieren“, hörte ich eine Frau zu einer anderen sagen, als ich meine Box in der Größe einer Picknickdose nach Hause trug. Die Erwartung, die dieser Bemerkung zugrunde liegt, ist unter israelischen Juden weit verbreitet. Jedem ist klar, daß Israel in einem verzwickten Spiel mit vielen Mitspielern gefangen ist, und die Hauptspieler sind die Präsidenten der USA und des Irak. Wenn der letztere als Mann des Jahres 1990 das Rennen macht — im Moment führt er nach Punkten —, dann bedeutet das für den jüdischen Staat nichts Gutes; das weiß jeder. Wenn aber Bush Präsident bleiben und die Macht und den Ruhm der Vereinigten Staaten wahren will, dann wird er seiner Armee, die er um die halbe Welt geschickt hat, auch den Feuerbefehl geben müssen.
Nicht alle Israelis sind sich so sicher wie jene Frau, daß er dazu auch den Anlaß finden und den Mut aufbringen wird. Andererseits zweifeln nur wenige daran, daß Israel hineingezogen wird, wenn die Vorbereitungen am Golf zum Krieg führen. Aber fast immer in dieser Wartezeit seit dem 2.August stieg der Pegel der Angst hier nicht höher als üblich, jedenfalls nicht wegen Saddam, dessen Drohungen keine Panik ausgelöst haben. Wir Israelis sind an Kriege und Kriegsgerüchte gewöhnt. Ich kenne nur einen Israeli, der sich über das Gas wirkliche Sorgen macht: Eine Frau, die fürchtet, ihr Chihuahua- Hündchen werde sich nicht in das Plastikzelt sperren lassen, das sie ihm besorgt hat. Die Entscheidung der Regierung, Gasmasken auszuteilen, scheint weniger öffentlichen Forderungen geschuldet als der Furcht, es könne ein gerichtliches Nachspiel haben, wenn die Masken im Depot bleiben und eine von Saddams Raketen doch durchkommt.
Als die einzige Demokratie im Nahen Osten ist Israel auf Untersuchungsausschüsse spezialisiert. Sie haben den Yom-Kippur-Krieg unter die Lupe genommen, die Massaker in Sabra und Shatila und andere Themen, und als Ergebnis ihrer Befunde haben Generäle, Premierminister und Bankdirektoren ihren Hut nehmen müssen. Der letzte Ausschuß dieser Art hat soeben erklärt, die Polizei habe ihre Pflicht vernachlässigt, weil sie nicht mehr Leute auf dem Tempelberg stationiert hatte, obwohl Hinweise auf geplante moslemische Unruhen vorlagen. Wäre die Polizei stark aufmarschiert, so lautet implizit die Schlußfolgerung des Ausschusses, hätte sie auch nicht das Feuer eröffnen müssen, 17 Palästinenser wären am Leben geblieben, George Bush wäre nicht beim Golfspiel gestört worden und Jerusalem wären die vielleicht heißesten Tage seit dem Sechs-Tage-Krieg erspart geblieben.
Saddams Drohung, „halb Israel mit Raketen zu verbrennen“, wurde unbeeindruckt aufgenommen; aber dennoch geht in Jerusalem wieder die Angst um, seit drei Juden in der Stadt erstochen wurden — am Tag, nach dem ich meine Gasmaske abgeholt hatte, nicht weit von meiner Wohnung.
Der achtzehnjährige Palästinenser aus den besetzten Gebieten, der die Tat beging, hat der Polizei gesagt, das sei seine Rache für das, was auf dem Tempelberg geschah. Sein Beispiel war wahrscheinlich ansteckend — überall in Israel verdienen sich Palästinenser ihren Lebensunterhalt auf Baustellen und in Restaurantküchen, wo Hämmer und Messer schnell zur Hand sind. Als die Angriffe und Messerstechereien sich vervielfachten und militante Juden nach Arabern suchten, die sie verprügeln konnten, sah sich die Regierung gezwungen, die grüne Linie für eine Woche wiederaufleben zu lassen und Israelis und Palästinenser
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voneinander zu trennen. Gespenstisch war das einzig richtige Wort für die verlassenen Bauplätze in meinem Viertel. Andererseits entdeckten Israels Friedensbewegte, die keinen Grund zur Hoffnung mehr sahen, seit die Palästinenser ihre Liebe zu Saddam beschworen, einen Silberstreifen am Horizont. Die wenn auch nur zeitweilige Auferstehung der grünen Grenze war ihnen Beweis, daß der Friede nur herbeigeführt werden kann, wenn die beiden Parteien getrennt werden: durch eine erneute Teilung des Landes — selbst eine rechte Regierung wie die jetzige müsse das eines Tages erkennen. „Wer das Leben dem Tode vorzieht“, schrieb Amos Oz letzte Woche, „der muß verstehen, daß die beiden Völker dringend getrennt werden müssen.“
Wie vorauszusehen, sind diejenigen, die immer Falken waren, anderer Meinung — wenn aber nicht, dann sehen sie die Lösung nicht in Israels Rückzug und einer neuen Teilung, sondern in der Vertreibung der Nicht-Juden aus dem gesamten Gebiet westlich des Jordans. „Wenn die beiden Völker nicht zusammen leben können“, sagte Hanan Porat, ein verhältnismäßig milde gestimmter religiöser Falke, „dann werden die Palästinenser gehen müssen.“ Nein, Koexistenz sei auch weiterhin möglich, sagt Ariel Scharon — wenn wir ausgewählte Unruhestifter deportieren. Also hat niemand seine oder ihre Ansicht geändert. Die verschiedenen Rechten glauben, was sie schon immer geglaubt haben, nur noch leidenschaftlicher, und die verschiedenen Linken glauben, was sie immer geglaubt haben, nur noch leidenschaftlicher.
Falken und Tauben kaufen derweil gleichermaßen mehr. 45er Revolver und junge Schäferhunde. Wenn das so weitergeht, werden Jerusalems Straßen die Nerven bald ebenso auf die Probe stellen wie die von Manhattan oder Washington. Teddy Kollek, seit 25 Jahren Bürgermeister von Jerusalem, versuchte die Dinge ins rechte Licht zu rücken, indem er einen derartigen Vergleich anstellte. Aber natürlich ist Jerusalem nicht vergleichbar, und der Krieg zwischen den Juden und den Arabern über dieses Stück Boden zwischen dem Mittelmeer und dem Jordan, der vor siebzig Jahren begann und wahrscheinlich noch weitere siebzig Jahre dauern wird, ist ein Krieg eigener Art. Kollek räumte das auch ein, als er hinzufügte: „Alles wird gut. Vielleicht in hundert Jahren.“
Inzwischen geht das Leben weiter, und wie. Die grüne Grenze ist vorsichtig wieder geöffnet worden, überall in Jerusalem sieht man Polizei, und jeden Abend landen auf dem Ben-Gurion-Flughafen bis zu sieben Flugzeuge mit sowjetischen Einwanderern. Die meisten Wendepunkte erweisen sich im nachhinein als Täuschung. Aber ich glaube fast, daß diese Menschenwelle die Situation verändern wird — vielleicht bringt sie den Frieden einen Tag näher? Die blutige Erregung der letzten Wochen und das Warten auf George Bush hat auch mich leicht aus der Fassung gebracht. Wenn ich morgens joggen gehe, draußen zwischen einer steinübersäten Wiese, auf der ein arabischer Schäfer seine Herde zusammenhält, und einer Baustelle, auf die die Araber zurückgekehrt sind, um mehr Wohnhäuser für Juden zu bauen, lasse ich meine Gasmaske unter meinem Bett, wo es kühl, trocken und dunkel ist. Aber mein Klappmesser nehme ich mit.
Aus dem Englischen
von Meino Büning
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