: Der Rubel rollt nicht mehr
Gorbatschow-Dekret verfügt sofortigen Einzug der 50- und 100-Rubelscheine/ Als Antimafiamaßnahme getarnt, soll sie den Kaufkraftüberhang abschöpfen und Inflation eindämmen ■ Aus Moskau K.-H. Donath
Dienstag abend, 21 Uhr, Moskauer Zeit. Die Nachrichtensendung Wremja des zentralen sowjetischen Fernsehens beginnt. Erst Golfkrieg und dann Neues aus dem krisengeschüttelten Baltikum war zu erwarten. So lief es schließlich die ganze letzte Woche, und was hat sich an der Lage schon geändert? Nichts. Also... Nein, statt dessen verliest die Ansagerin ein Präsidentendekret. Auch das ist nichts Ungewöhnliches, ja er macht geradezu inflationären Gebrauch von seinem Recht. Nur wenige hören da noch zu, viel schlimmer, kaum einer befolgt sie. Doch was dann kam, damit hatte wirklich keiner gerechnet. Der Präsident nutzte die Gunst der Stunde und verfügte mit Wirkung ab 24 Uhr die Ungültigkeit aller 50- und 100-Rubelscheine. Schlagartig war die leidgeprüfte Sowjetgesellschaft aus ihrer Lethargie erwacht. „Im Interesse der überwältigenden Mehrheit der Bevölkerung des Landes, den Kampf gegen Spekulantentum, Korruption, Schmuggel und die Herstellung von Falschgeld sowie nicht erabeiteter Einkommen zu verstärken, und mit dem Ziel, den Geld- und Verbrauchermarkt zu normalisieren, ordne ich an...“
Notdürftig als eine Antimafiaaktion getarnt, zielt die Maßnahme vor allem darauf, den gewaltigen Geldüberhang im Lande abzuschöpfen, der die Inflation im letzten Jahr auf über zwanzig Prozent hat steigen lassen. Daß es sich dabei um eine ökonomische und keine „ordnungspolitische“ Verfügung handelt, verraten die Begleitmaßnahmen. So dürfen die Sowjetbürger künftig nicht mehr als 500 Rubel monatlich von ihrem Konto bei der Sparkasse abheben. Ersparnisse aus vorkapitalistischer Schatzbildung, in Schubladen und Strümpfen, werden nur in Höhe eines Monatslohnes oder maximal bis 1.000 Rubel umgetauscht. Und das auch nur binnen einer Dreitagesfrist.
Viele Sowjets horten ihr Geld zu Hause. Denn die staatliche Sparkasse zahlt nur drei Prozent Zinsen, die von der galloppierenden Inflation aufgefressen werden. Außerdem wollen sie, wenn es denn mal etwas zu kaufen gibt, schnell an ihr Geld herankommen. Den Abhebevorgang muß man sich nämlich noch umständlicher vorstellen als bei der deutschen Bundespost. Unternehmen erhielten am Mittwoch nur drei Stunden Zeit, um ihre Rücklagen zu deklarieren. Nur wenn sie den Beweis erbringen können, das Geld auf legale Weise erworben zu haben, wird es in Gänze umgetauscht. Leute, die zur Zeit nicht arbeiten, haben überhaupt keinen Anspruch, ihre Rücklagen zu wechseln.
Örtliche Behörden und Finanzexperten wollen allerdings innerhalb der nächsten zehn Tage entscheiden, ob man in Einzelfällen auch größere Geldbeträge einlösen darf. Widersprüche bei höherrangigen Stellen sollen außerdem möglich sein. Ob die schwerfällige Sowjetbürokratie dazu überhaupt in der Lage ist, läßt sich bezweifeln. Denn schon den Run auf die Sparkassen gestern morgen beantworteten sie schlicht, indem sie ihre Türen schlossen. „Wir sind völlig überrascht und haben gar nicht genug Geld“, meinte ein Angestellter. Der Überraschungsschlag, frotzelte ein Journalist im Radio, sei dem Präsidenten wirklich gelungen: „Gratulation, diese Geheimaktion war ein Glanzstück. Keine Gerüchte, kein Leck.“ Für die Umsetzung des Dekrets sorgt der KGB, der in letzter Zeit häufig in die „Regulation der Wirtschaft“ eingeschaltet wird.
Zur Rechtfertigung der Maßnahme meinte der neue sowjetische Premierminister Walentin Pawlow: „Die Fünfziger- und Hunderternoten sind die wesentlichsten Elemente der Schattenwirtschaft. Sie machen mehr als ein Drittel der Geldmenge aus, die sich im Umlauf befindet.“ Gleichzeitig versuchte er, die einfachen Menschen zu beruhigen: An ihre Ersparnisse wolle man nicht ran. Aber genau das wird der Effekt sein. Milliarden Rubel verlieren ihre Gültigkeit. Für die Mafiosi bedeutet das im schlimmsten Fall den Verlust eines Wochenlohnes. Sie tauschen ihre Rubel nämlich sofort in harte Währung um. Außerdem verfügen sehr viele von ihnen über exklusive Kontakte nach weiter oben oder waschen ihr Geld durch private Kooperativen rein.
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