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Müsli nein danke?

■ Dr. Sigrid Müller, Pharmakologin, über das Kranke am Gesundheitsbegriff

Morgen startet die kulturpolitische Matinee „Lebendige Stadt“ in die Saison '91 (12 Uhr, Theater am Leibnizplatz). Thema diesmal: „Gesundheitsförderung“. Organisatorin ist Sigrid Müller.

taz: Was ist mit unserer Gesundheit?

Sigrid Müller: Es wird immer noch so getan, als wäre Gesundheit machbar. Aber welche Aufgaben die staatlichen Organe haben, um eine erhaltenswerte Welt zu organisieren, in der man gesund leben kann, das bleibt außen vor. Es setzt sich immer mehr durch: Für unsere Gesundheit sind wir selbst verantwortlich, indem wir Müsli essen, unsere Cholesterinwerte niedrig halten.

Sollen wir aus Protest kein Müsli mehr essen?

Müsli schmeckt gut, aber Müsli essen reicht nicht. Und wenn Gesundheitsförderung dargestellt wird als Förderung von Selbsthilfe im Bereich Krankheit und Behinderung, wenn Krankenkassen zur Vorbeugung Yoga-Kurse anbieten, dann ist das eine Unverschämtheit.

Wie definierst Du Gesundheit?

Gesundheit ist ein Prozeß, der sich im Laufe der Zeit vollzieht und nicht denkbar ist ohne vorübergehende Krankheit. Gesundheit ist abhängig von der Einheit Körper-Seele-Geist, die wiederum eingebunden ist in die Gesellschaft. Zum Beispiel gibt unser Arbeitskreis AMID (Arzneimittel-Informationsdienst/d.R.) Informationen heraus, wo über die Grenzen der Heilungschancen aufgeklärt wird. Aber das wird von Politikern nicht als Notwendigkeit gesehen, daß jeder, der ein Arzneimittel verschrieben bekommt, die Chance haben soll, sich zu erkundigen, was man sonst machen kann.

Was hast Du für das Podium vor?

Dieses Forum sollte dazu dienen, den Begriff Gesundheitsförderung als Aufgabe der Gesamtpolitik deutlich zu machen. Da werden sitzen Thomas Kieselbach, Gesundheitspsychologe, Thomas Hilbert vom Hauptgesundheitsamt, Rainer Müller, Arbeitsmediziner, Klaus Schäfer-Brede, Verkehrsökologe. Wir wollen fordern, daß eine Stelle eingerichtet wird zur Sprachanalyse, daß z.B. Wirtschaftsminister Möllemann nicht mehr ungestraft sagen kann, er wolle sich für eine gesunde Wirtschaft einsetzen.

Warum nicht?

Weil kein Mensch mehr genau weiß, was es mit Gesundheit eigentlich auf sich hat. Oder dieser Werbespruch: „Gesundheit, die man kaufen kann“. So eine Werbung müßte verboten werden. Weil damit immer wieder ein falscher Begriff von Gesundheit transportiert wird.

Ist man nicht längst zur Gesundheit verpflichtet, wenn sich Krankenkassen schon Gesundheitskassen nennen?

Darum geht es. Es ist nicht zu fassen, wie Gesundheit zu einem medizinischen Problem verkommt. Da empfehlen Mediziner bestimmte Verhaltensmaßregeln, daß man nicht raucht, daß man ständig seine Broteinheiten wiegt oder den Blutdruck mißt — die ganze Energie von Menschen, mit der sie sich für gesundheitsförderliche Lebensbedingungen einsetzen könnten, wird reduziert auf Privatverhalten.

Du findest es nicht richtig, daß Gesundheit von Ärzten verwaltet wird?

Nein. Weil damit aus dem Blick gerät, daß in der Welt, die wir heute haben — 99% unserer Krankheiten sind Zivilisationskrankheiten — die Menschen nicht gesund sein können. Die WHO spricht in ihrem „Gesunde Städte“-Projekt davon, daß Gesundheit da entsteht, wo Menschen leben, lieben, arbeiten, und miteinander spielen. Das gibt es nicht. Gesundheit ist wie Frieden: ein Prozess, der ständig angegriffen wird. Fragen: claks

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