: WO WEIN UND WASSER FLIESSEN ...
■ Zu Gast in der Oase Turfan an der nördlichen Seidenstraße
Zu Gast in der Oase Turfan
an der nördlichen Seidenstraße
VONLUDGERLÜTKEHAUS
Hitze. Schweiß. Schmutz. Zigarettenqualm. Gedränge. Unfreiwilligster Kontakt von Mensch zu Mensch. Dazu das elende Gerüttel. Der Bus von Daheyon ist noch schlechter als seine Vorgänger. Kein offenes Fenster. Und das ist noch gut so. Denn was die Mitfahrenden vorne herausspucken, flöge hinten wieder herein. Kurz, es ist das reinste Martyrium.
In Kashgar, dem westlichen Endpunkt der ehemaligen Seidenstraße, wo die nördliche und die südliche Umgehungsroute der Taklamakan- Wüste zusammenlaufen, in der autonomen chinesischen Provinz Xinjiang-Uighur, hatte es vor vier Tagen angefangen. Seitdem sind wir mit den ortseigenen Verkehrsmitteln unterwegs. Vier Tage. Vier schrecklich lange Tage. Aufbruch mit unschöner Regelmäßigkeit im Morgengrauen. Die alltägliche Erstbesteigung des Busdachs zum Verstauen des Gepäcks. Dann der Kampf ums Dasein als Kampf um die Plätze. Freundliches Lächeln, manchmal; hartnäckige Selbstbehauptung, immer. Schließlich die Euphorie beim Fahren, beim Sehen. An der endlosen Straße die Telegraphenmasten. Nördlich die Berge des Tien-Shan- Gebirges, über 7.000 Meter hoch. Südlich des Tarim-Becken: die Ausläufer der Taklamakan, der nach Sahara und Gobi drittgrößten Wüste der Erde. In der Ferne, dann näherkommend die irrwitzigen Wirbel der Windhosen: Geysire aus Sand, die sich nach Norden hin auf die Gletscher zubewegen. Überall spektakuläre Kontraste.
Nach zwei Stunden hat man sich satt gesehen, müde gesehen. Man sinkt nach vorne. Gliederschmerzen, die Bandscheiben, die Knie. Halbschlaf, dösige Träume. Gelegentlich, bei einem straßenbedingten Katapultstart in Richtung Busdach, ein abruptes Hochschrecken. Abwechslung, Erleichterung nur bei den Teepausen, den Stopps für die Mahlzeiten am Straßenrand. Dann wieder fahren, fahren, fahren. 1.300 Kilometer insgesamt. An Aksu, Kuche, Kurle, am Bogras-Khöl-See vorbei, den Kumysh-Paß hinab, Urumqi vor null Uhr fünf ohne Großen Tiger und Kompaßberg links liegen gelassen. Die Tristesse, der Dreck der Absteigen. Ein viel zu kurzer Schlaf. Dann wieder das Vergnügen des Aufstehens, das Grauen des Morgengrauens. Erneutes Fahren. Und jetzt im Bus von Daheyon. Was hat uns nur hierhergetrieben?
Immerhin wird der Bus schneller. Zunehmendes Gerüttel. Abwärts geht es. Und plötzlich in der Ferne eine riesige Mulde, viele Kilometer im Durchmesser, ein gigantischer Teller, am Rand noch braunrot, zur Mitte hin grün. Palmen, endlos. Phantasieren wir schon? Gibt es auch unter Busbedingungen eine Fata Morgana? Doch sie hält sich: keine enttäuschende Spiegelfechterei. Sie kommt näher. Wir fahren mitten hinein. Stetig nach unten. Und am tiefsten Punkt sind wir nicht in der Hölle, sondern unversehens — im Paradies.
Wunderbare Depression
Das Paradies — das ist die Oase Turfan, die Turfan-Senke in der Nordostecke des Tarim-Beckens. Geographisch nennt sie sich wegen ihrer Lage 154 Meter unter dem Meeresspiegel — nur das Tote Meer liegt noch tiefer — eine „Depression“. Doch das ist auf den ersten Blick auch so ziemlich das einzige, was hier zu Depressionen anstiften kann.
50.000 Quadratkilometer ist die Turfan-Senke groß. Im Sommer herrscht eine Durchschnittstemperatur von 32 Grad Celsius, im Juli wird es bis zu 50 Grad heiß, an der Erdoberfläche bis zu 75 Grad. Die Winter sind kalt und trocken. Und trocken wäre es auch sonst ganz und gar — bei etwa dreißig Sandstürmen pro Jahr und nur zehn Millimeter Niederschlag, wobei der Regen meist nicht einmal wirklich den Boden erreicht, weil die Tropfen noch in der Luft verdunsten—, wenn da nicht das Wunderwerk der künstlichen Bewässerung von Turfan wäre, die insgesamt nicht weniger als 130.000 Bewohnern das Leben gestattet. Im Laufe der Jahrhunderte haben vor allem die Uighuren, die heute noch die Bevölkerungsmehrheit stellen, und die Han-Chinesen, die derzeit politisch herrschen, über 1.000 Brunnen und ein über 3.000 Kilometer langes Netz unterirdischer Kanäle („Kareze“) angelegt, das das Wasser vom Tien- Shan-Gebirge in die Turfan-Senke leitet. Die erste chinesische Beschreibung der Turfan-Kareze stammt aus der Mitte des 13. Jahrhunderts.
Die Kareze sind horizontal gegrabene „Brunnen“ oder erdeinwärts führende „Kanäle“, die bis zu den wasserführenden Lagern in den weit entfernten Bergen getrieben wurden: phantastische hydrogeologische Ingenieursleistungen fürwahr, weil dafür über etliche Kilometer hinweg Tunnel mit gleichmäßigem, nicht zu starkem und nicht zu schwachem — dann zur Verschlemmung führendem — Gefälle gegraben werden mußten, zahllose Schächte für die Belüftung dazu.
Inzwischen sind natürlich mit den technischen Möglichkeiten der Gegenwart zahlreiche weitere Brunnen erschlossen worden, über 600 allein nach der Kulturrevolution. Aber die Kareze werden auch heute noch benutzt. Sie liefern Trinkwasser und sorgen für die künstliche Bewässerung, die aus diesem glühenden Wüstenofen eine vor Fruchtbarkeit schier berstende Insel im Sandmeer gemacht hat.
Trauben, Melonen und Baumwolle bilden die „drei Schätze der Turfan-Senke“. Die besonders süßen, seit mehr als tausend Jahren angebauten Hami-Melonen erreichen ein Gewicht bis zu 15 Kilogramm. Und unter den Trauben verdient die vorherrschende Turfan-Traube besondere Beachtung, denn sie bringt es nicht nur zu einem Fruchtzuckergehalt von 20 Prozent, sondern sie ist auch kernlos. Sozusagen Genuß ohne Widerstand.
Das Touristenleben unter solchen Paradiesbedingungen spottet selbstverständlich jeder angemessenen Beschreibung. Unbedingt sollte man im Turfan-Hotel, dem „Turfan-Binguan“, wie es heute unter chinesischer Geschäftsführung heißt, logieren. Hier, in den schattigen, fast vollständig überwölbten Weinlaubengängen, wachsen die Trauben den Reisenden fast schon selbsttätig in den allzeit begierig geöffneten Mund. Nur sollte man sich nicht unbedingt bei diesem „Hineinwachsen“ vom Hotelpersonal erwischen lassen. Auf dem sanft ansteigenden Rebgelände vor den Hotel- und Stadttoren hat man ohnehin keine Probleme, fündig zu werden.
Wein- und Wasserfreuden
Der eigentliche Hochgenuß ist indessen erst dann gekommen, wenn man in der lauen Atmosphäre der hereinbrechenden Wüstennacht den Wein von Turfan degustiert: einen kräftigen, höchst wirkungsmächtigen und wohlschmeckenden, durchgegorenen Weißwein, der ganz offensichtlich nicht geschönt werden mußte. Unter seinem Einfluß verwischen sich die Grenzen und vermischen sich die Bereiche bald auf das angenehmste. Aber was soll denn auch bei diesem Wein noch das grenzziehende Wissen...?
Am nächsten Morgen macht es keine Schwierigkeiten, relativ schwerelos wieder aufzutauchen. Außerdem ist in der zunehmenden Hitze des Tages nach der Stunde des Weins bald die des Wassers gekommen. Vor den Toren der Oasenstadt wird einer der oberirdisch geführten neuen Bewässerungskanäle zweckentfremdet: für ein Bad im durchaus kühl gebliebenen Bergwasser, das übliche Schwimmerlebnisse vergessen läßt. In einer Art von Schwimm- Bobbahn kann man, wenn man will, Hunderte von Metern mit atemberaubender Geschwindigkeit kanalabwärts rauschen. Nur vor Schürfwunden oder dem Verschwinden im nächsten Wehr muß man sich hüten. Die Turfaner schauen den risikofreudigen Badetouristen beobachtend, aber keineswegs unfreundlich zu. Und die Kinder sind ohnehin sofort dabei.
Kein Wunder unter solch wundersamen Wein- und Wasserfreuden, daß Turfan nicht erst von den Touristen entdeckt worden ist. Die Uighuren, die Sogdier, die Hunnen, die Tocharer, die Hui, die Han, die Tibeter, die Mongolen und viele andere Völker mehr haben die Oase in ihrer über zweitausendjährigen Geschichte besucht, erobert, bewohnt, bebaut, gepflegt, genutzt, zerstört. Und auch eine vielversprechend vielfältige Religionsgeschichte hat hier ihre Spuren hinterlassen: die Buddhisten, hellenistisch-indische Mischformen, sunnitische Moslems, Manichäer, Nestorianer...
1777/79 ist die heute noch wohlerhaltene Amin-Hodscha-Moschee im afghanischen Stil aus sonnengetrockneten Ziegeln erbaut worden: schlicht im Schmuck und um so schöner — die Wüste verträgt keinen Manierismus, kein Barock. Von ihrem 44 Meter hohen wunderbaren Minarett, das der Turfan-Senke so etwas wie eine künstliche Erhöhung gibt, hat man den Überblick über Reben, Palmen, Kanäle bis hin zum Wüstenrand.
Im Westen die Lehmruinen der alten Uighuren-Hauptstadt Jiache, die von den Mongolen unter Dschingis- Khan zerstört wurde. Im Osten die Reste der alten Handelsstadt Gaochang, die schon im ersten nachchristlichen Jahrhundert gegründet wurde. Nicht weit davon die vor Hitze flirrenden, bis zu knapp tausend Meter ansteigenden „Flammenberge“. Und in diesem Gebiet dann auch die einzigartigen Relikte aus Turfans hoher buddhistischer Zeit: das Astana-Gräberfeld aus der späten Tang-Dynastie, in dessen Katakomben, zwischen einer verblichenen, zunehmend gefährdeten Freskenkunst und menschlichen Skelettruinen dann doch so etwas wie Vergänglichkeitsdepression droht; vor allem aber die Höhlen der Tausend Buddhas von Bezeklik, in denen die Depression uns vollends ereilt.
Kulturvielfalt und Kulturklau
Denn hier, in einer einzigartigen, nur von dem tausend Kilometer weiter südöstlich gelegenen Dunhuang übertroffenen Ansammlung von klösterlichen Eremitagen, die zwischen dem 6. und dem 14. Jahrhundert von buddhistischen Mönchen in den Sandstein hineingetrieben wurden, haben weder die Mongolenhorden noch die Bilderstürmer der Kulturrevolution ihr Unwesen getrieben, sondern die europäische Archäologie: Engländer (Sir Aurel Stein), Franzosen, Schweden (Sven Hedin), Russen, an ihrer Spitze die königlich-preußische Archäologie unter Albert Grunwedel, Theodor Bartus und besonders Albert von Le Cog.
Etliche Male ist er vor dem Ersten Weltkrieg als Leiter der preußischen Turfan-Expeditionen hier gewesen: mutig, kenntnisreich, gelehrt — und beutegierig. Wenn schon Kolonien und eine Flotte, dann offenbar auch eine zupackende Archäologie. Weil es die spektakulär schönen Wandgemälde der klösterlichen Klausen vor dem Zahn der Zeit und der Bilderfeindlichkeit der moslemischen Türken zu retten galt — so Le Coqs Version —, hat er sie der Einfachheit halber gleich abgelöst, abgesägt und für 170.000 Reichsmark Frachtkosten in 103 bürgerlich-soliden Monsterkisten mitsamt zahllosen Handschriften heim ins Reich nach Berlin geschafft. Eroberungsarchäologie einer selbsternannten akademischen Schutztruppe in Deutsch-Turkestan.
Wie es die tragische Ironie der Geschichte so wollte, sind die abgesägten Wandgemälde an ihrem vermeintlichen Konservierungs- und Schutzort in Berlin zu großen Teilen ein Opfer des Bombenkrieges geworden. In Bezeklik hängen nur noch die Fotos der Fresken an den Wänden: ein imaginäres Museum von Gnaden der Apparate; frei nach Walter Benjamin „das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduktionsbedürftigkeit“. Und wenn jetzt deutsche Touristen Fotos von Fotos machen, die von den nach Deutschland deportierten und dort zerstörten Kunstschätzen gemacht worden sind, dann schließt sich vor Ort ein makabrer historischer Kreis.
Das könnte etwas zu nachdenklich stimmen. So kehren wir im letzten verglimmenden Abendlicht lieber wieder in die Oberwelt heim. Die bröckelnden Stadtmauern von Gaochang, die jetzt gegen einen zwischen Tiefblau und Schwarz oszillierenden Himmel stehen, bleiben zurück. Was noch wartet, bevor es kühl genug zum Schlafen ist, das ist wie jeden Abend der inzwischen schon wohlvertraute Wein: der „Turfaner“, wie wir ihn getauft haben. Neben all seinen übrigen Vorzügen hat er ganz gewiß auch diesen: Anders als weiland königlich-preußische Expeditionen kann man ihn an seinem angestammten Ort lassen und doch etwas davon haben...
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen