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Die Lage der Nation wird derzeit in Bagdad mitentschieden

■ Der Krieg am Golf und die politische Lage der USA heute sind die Folge fataler Fehleinschätzungen und des diplomatischen Versagens der US-Administration

Die Lage der Nation, wie sie von Präsident Bush am Dienstag abend wieder einmal mehr beschworen als beschrieben wurde, scheint in diesen Tagen einzig und allein von einem Mann abzuhängen: von Saddam Hussein. Amerika (und der Rest der Welt) als Opfer eines ambitionierten Dritte-Welt-Landes mit einem ruchlosen Diktator an der Spitze, der neben seinen Nachbarn gleich auch noch die gesamte neue Weltordnung bedroht — dies ist das Bild, das Bush seit Beginn des Golfkonfliktes mit großem Geschick und beinahe unwidersprochen gezeichnet hat.

Daß seine Administration Mitarchitekt des gegenwärtigen Kriegsszenarios ist, wird dabei leicht vergessen oder verschwiegen. Denn war es nicht US-Botschafterin Glaspie, die Saddam auf Geheiß ihres Außenministers hin signalisierte, die USA würden zumindest eine Teilannexion Kuwaits durch den Irak dulden? Und war es nicht George Bush selbst, der mit seiner undemokratisch verfügten Verdopplung der US- Truppen am Golf schon am 8. November die Voraussetzungen für den Krieg geschaffen hatte, lange bevor dies dem Kongreß und der (Welt-)Öffentlichkeit überhaupt aufging?

Es mag sein, daß Saddam Hussein sich Kuwait auch ohne ausdrückliche Einladung einverleibt hätte und später seine Scud-Raketen auf Israel abgefeuert hätte. Doch der Krieg — wie er heute von den USA und ihren Alliierten geführt wird —, die vorher gescheiterten diplomatischen Lösungsversuche und schließlich die Lage der Nation sind zu einem erheblichen Teil dem zuzuschreiben, was die New Yorker 'Village Voice‘ im Januar als „das größte diplomatische Versagen eines modernen Präsidenten“ bezeichnete.

Fünf Tage vor dem Einmarsch irakischer Truppen in Kuwait wurde George Bush von seinem Geheimdienstchef William Webster über die Invasionsabsichten Saddam Husseins aufgeklärt. Doch sogar danach hielt die Administration noch an ihrem Beschwichtigungskurs fest, einem Kurs, den die USA und Europa gegenüber „ihrem Mann in Bagdad“ als Teil ihrer sogenannten Nahost- Politik schon seit einem Jahrzehnt verfolgt hatten. Noch am 12. April hatten die republikanischen Führer im Kongreß, die Senatoren Dole und Simpson, Saddam bei ihrem Besuch in Bagdad mitgeteilt, die Bush-Administration werde den Rufen des Kongresses nach Wirtschaftssanktionen wegen der Menschenrechtsverletzungen im Irak nicht nachgeben. Noch am 25. April hatte Außenminister James Baker vor einem Senatsausschuß nervös gewordene Kongreßabgeordnete beruhigt, Saddam habe ihnen versprochen, seine Chemiewaffen nur im Falle eines Atomangriffs auf den Irak einzusetzen — eine Bemerkung des Diktators, die zu Beginn dieser Woche plötzlich größtes Entsetzen hervorrief, damals aber von der Presse kaum aufgegriffen wurde.

Ihren Höhepunkt fand die praktizierte Appeasement-Politik schließlich in der denkwürdigen und tragischen Äußerung von Botschafterin Glaspie bei ihrem Treffen mit Saddam Hussein am 25. Juli. Nachdem Saddam ihr in aggressivem Ton seine Frustrationen über die sture Haltung des kuwaitischen Emirs und seine mögliche Motivation zu einem Einmarsch in aller Deutlichkeit beschrieben hatte, erwiderte Glaspie: „Wir haben zu arabisch-arabischen Konflikten wie Ihren Grenzstreitigkeiten mit Kuwait keine Meinung. Ich gehörte in den späten 60er Jahren zum Stab der amerikanischen Botschaft in Kuwait. Wir hatten damals die Instruktionen, daß wir zu diesem Thema keine Meinung hatten und daß dieses Thema nichts mit Amerika zu tun hatte.“

Der letzte Außenminister, der eine internationale Krisensituation so falsch einschätzte wie James Baker, der britische Lord Carrington, besaß wenigstens noch den Anstand, einen Tag nach Ausbruch des Falkland-Krieges von 1982 zurückzutreten. Doch auf seine politische Verantwortung für Glaspies Äußerung hin angesprochen, erklärte Baker nur ganz lässig, seine Order an die Botschafterin in Bagdad sei nur eine „von wahrscheinlich 312.000, oder so, Telex-Mitteilungen (gewesen), die unter meinem Namen in die Welt hinausgehen“. Von einer US- Presse, die diesen Skandal damals nicht aufgriff, jetzt eine neutrale Kriegsberichterstattung zu erwarten, grenzt da schon an Naivität.

In einem späteren Interview mit der 'New York Times‘ machte die zu diesem Zeitpunkt schon elegant ihres Postens enthobene Diplomatin sogar deutlich, daß „wir nie erwarteten, daß sie [die Iraker, R. P.] sich ganz Kuwaits bemächtigen würden“. Mit anderen Worten, die Urheber der kompromißlosen UN-Resolution, die jegliche territorialen Zugeständnisse an Saddam ablehnt, waren bis zum Tag der Invasion noch zu einem Handel mit Saddam bereit. „Eine Revision der Grenze mit Kuwait“, so formulierte es Christopher Hitchens in der Januarausgabe von 'Harpers Magazine‘, war offensichtlich Teil des Preises, den Washington in seinem langfristigen Versuch der Zähmung Saddams zu zahlen bereit war. Es sind damit die Chamberlains der Bush-Administration, die heute ihren Gegnern und der Friedensbewegung eine „Appeasement-Politik“ vorwerfen.

Wie es zu dem plötzlichen Sinneswandel der Bush-Administration kam, werden vermutlich erst die Historiker herausfinden. Die Presse scheint daran jedenfalls merkwürdig desinteressiert zu sein. War es Margaret Thatcher, die den US-Präsidenten bei ihrem Treffen am 3. August in Aspen, Colorado, einen Weichling schimpfte, falls er dem Einmarsch der irakischen Truppen nun tatenlos zusehe? Oder war es, wie einige Konspirationstheoretiker vermuten, gar das langgesteckte Ziel des George Bush, Saddam in die Falle Kuwaits zu locken, um ihm dann seine militärische Macht stutzen zu können?

Fest steht heute nur eines: Wenn derzeit in Bagdad über die Lage der US-Nation mitentschieden wird, wenn Saddam Hussein mit seinem militärischen Durchhaltevermögen die Länge der Rezession und die Höhe des zukünftigen US-Haushaltsdefizits mitbestimmt, dann ist dies das Resultat einer wieder einmal gescheiterten Nahost-Politik der USA, einer verqueren Mischung aus vermeintlicher Realpolitik, überreiztem Pokerspiel und diplomatischer Inkompetenz. Rolf Paasch

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