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Schöngeistige Lesehilfe

■ Ein Gespräch mit dem Literaturwissenschaftler Wolfgang Klein

Wolfgang Klein studierte 1966 bis 1971 an der Berliner Humboldt-Universität Geschichte und Romanistik; seit 1971 beschäftigt beim Zentralinstitut für Literaturgeschichte; 1976 A-Promotion über „Schriftsteller in der französichen Volksfront“; 1987 Habilitation über „Realistisches Kunstdenken nach 1848 in Frankreich“; seit 1976 Studienaufenthalte am Centre national de la recherche sientifique Paris; seit 1990 Vorsitzender des Wissenschaftlichen Rates des Instituts

taz: Die DDR—Literaturwissenschaft, folgt man dem Gründungsdatum Ihres Instituts 1969, scheint keine lange Tradition zu haben.

Wolfgang Klein: Vor unserer Institutsgründung wurde natürlich auch schon literaturwissenschaftlich gearbeitet, allerdings vorwiegend an den Universitäten und dann zum Teil schon an Instituten der Akademie. 1969 war das Jahr der Akademiereform; dabei entstanden auch die Institute für Sprachwissenschaft und Literaturgeschichte. Bis in die fünfziger Jahre wirkten noch starke bürgerliche Wissenschaftstraditionen, viele solcher Wissenschaftler hatten Lehrstühle an den Universitäten inne. Auch die ersten marxistischen Professoren kamen aus diesen Traditionen. Aber der Einfluß des Marxismus/Leninismus wurde immer stärker, und die Kulturpolitik war von sehr schlichten Vorstellungen des sozialistischen Realismus bestimmt.

Welche Rolle spielte dabei Lukács?

In den fünfziger Jahren hatte Lukács großen Einfluß — allerdings war die Rezeption sehr vereinfacht gegenüber seiner sehr viel breiteren philosophischen Weltbetrachtung. Man interpretierte Lukács in dem Sinne, daß Literatur die Menschen erziehen sollte. Das funktionierte in der Wissenschaft bis Ende der sechziger Jahre. Dann gab es eine Reihe von Umbrüchen. Zunehmend wurde der Leser als eine selbständig denkende und zu Selbständigkeit auch zu ermunternde und zu ermutigende Person begriffen.

Haben Literaturwissenschaftler diesen geistigen Umbruch herbeigeführt?

Dieser Umbruch passierte erst einmal in der Literatur selbst. Auf wissenschaftlicher Ebene denke ich an das Buch Gesellschaft, Literatur, Lesen — Literaturrezeption in theoretischer Sicht, das 1973 im Aufbau- Verlag erschienen ist. Die Autoren, fünf Kollegen aus unserem Institut, gingen mit dieser Arbeit über die bisherigen vereinfachten Vorstellungen von Literatur und ihrer Wirkung hinaus. Dabei haben sie sich u.a. auf die Aufklärung, auf Brecht sowie auf sowjetische Autoren der zwanziger Jahre bezogen, um klarzumachen, daß Literatur und vor allem sozialistische Literatur nicht politisch beschränkend wirken soll. Auch die Rezeptionsforschung der Bundesrepublik, besonders um Hans Robert Jauß, spielte eine wichtige Rolle. Man schöpfte aus gemeinsamen Traditionen, gesamtdeutschen muß man da noch sagen. Neben durchaus divergierenden Vorstellungen hat es auch danach Anregungen und Kontakte gegeben, die bewußt gepflegt wurden.

Wurde das Buch verboten?

Nein. Dieses Buch ist wie die meisten Arbeiten unseres Instituts nicht als kulturpolitisches Buch geschrieben worden, sondern als wissenschaftliche Arbeit. Kulturpolitisch hieß das, man war nicht so beengt, wirkte aber auch nicht so direkt, wie man es vielleicht gewollt hätte — trotz der drei Auflagen.

Haben Sie nichts gegen die Erziehungsarbeit der Literatur unternommen?

Literatur kann unter anderem auch erziehen. Schlimm war nur, daß daraus ein Dogma in der Schule wurde. Wir bedauern heute, nicht stärker dagegen angegangen zu sein.

Welchen Spielraum hatten Sie und Ihre Mitarbeiter bei Verlagsgutachten?

In der DDR gab es ein Druckgenehmigungsverfahren für Bücher — ein anderes Wort für Zensur. Jedes Buch mußte von einem nicht zum Verlag gehörenden kompetenten Menschen begutachtet werden. Mit diesen Gutachten konnten wir schon einiges bewirken. Die Gutachten waren ein wichtiger Teil unserer Arbeit, aber natürlich nicht der hauptsächliche. Das waren unsere wissenschaftlichen Bücher.

Für welche Verlage arbeiteten die Gutachter?

Volk und Welt als Verlag für internationale Literatur, Aufbau, Reclam, Kiepenheuer, Verlag der Kunst, Mitteldeutscher Verlag, der vorwiegend DDR-Literatur herausgegeben hat, sowie der Union-Verlag und Der Morgen. Wer welches Buch begutachtete, hing auch von persönlichen Bekanntschaften mit bestimmten Lektoren ab. Wir waren uns im allgemeinen mit den Verlagsmitarbeitern darin einig, daß wir gemeinsam versuchten, bestimmte Bücher zu veröffentlichen und dafür auch eine Druckgenehmigung zu erwirken.

Welche Bücher wurden nicht gedruckt?

Anfang der siebziger Jahre fehlten eine ganze Reihe weltliterarischer Werke der letzten zwei, drei Jahrhunderte — das ist auch unser Arbeitsgebiet —, weil sie in ihrer Machart und den literarischen Wirkungsabsichten nicht den Vorstellungen von einer erziehenden Literatur entsprachen. Ich denke an Werke der französischen Moderne von Baudelaire bis zum Surrealismus. Diese Bücher waren als bürgerlich-dekadent verschrien. Seit Mitte der siebziger Jahre erschienen sie erstmals in der DDR. Es gab aber auch Bücher, die eben wegen der politischen Inhalte nicht gedruckt wurden. Das betraf im wesentlichen Sowjetliteratur und DDR-Literatur, die gegenwärtige Zustände angriffen.

Welche Autoren waren betroffen?

Ich nenne einen Vorfall mit getrübtem Happy-End: Das war Volker Brauns Hinz und Kunz-Roman, der Mitte der achtziger Jahre vom Autor mit Hilfe meines Kollegen Dieter Schlenstedt endlich bis zur Veröffentlichung gebracht werden konnte, nachdem mehrere Jahre in den entsprechenden Instanzen im Zentralkomitee der SED und im Kulturministerium darum gerungen werden mußte. Schlenstedt hat Gutachten und für die Veröffentlichung eine schöngeistige Lesehilfe geschrieben, in der er erläuterte, daß die Art von Literatur und die satirische Art von Gesellschaftskritik, die Volker Braun in diesem Buch verbindet, sich durchaus um den Sozialismus bemühte. Der Roman wurde also letzten Endes veröffentlicht, und schon hagelte es scharfe Rezensionen und Referate gegen den Autor, aber auch gegen den Gutachter. Der Hinz und Kunz-Roman war übrigens eines der letzten so heftig kritisierten Bücher in der DDR.

Welche Quellen haben Sie für die modernere literaturwissenschaftliche Forschung nutzen können?

Das war schwierig. Es gab zum einen in Grenzen die Möglichkeit, sich Bücher über die Fernleihe zu besorgen. Oder auch — wir geben am Institut bis heute einen Referatedienst zur Literaturwissenschaft heraus — Rezensionen zu schreiben und eben dafür die Exemplare zu erhalten.

Bei dieser Gelegenheit haben wir auch versucht, Themen und Gegenstandsbereiche anzusprechen, die in der DDR nicht gut oder gar nicht angesehen waren, wie die Frankfurter Schule wegen ihrer kritischen Gesamthaltung zu allen Gesellschaften. Wir haben auch durch Tausch von Exemplaren aus der Institutsbibliothek bestimmte Bücher erworben. Aber wenn es um spezielle Themen ging, reichten unsere Quellen nicht aus.

Was haben Sie dann gemacht?

Da sind wir auf echte Grenzen gestoßen. Denn selbst von denjenigen, die reisen konnten, haben erst in den letzten Jahren einige längere Studienaufenthalte in westlichen Ländern absolviert. Wenn man sechs oder acht Wochen irgendwo arbeiten konnte, war das schon sehr viel. Für die anderen, also die Nicht-Reisekader, war das ein echtes Hemmnis, und eine Reihe von Kollegen sind dadurch auch in ihrer wissenschaftlichen Arbeit wirklich behindert worden. Die Institutsleitung versuchte, möglichst viele Kollegen reisen zu lassen, bei uns am Schluß 53 Prozent der Wissenschaftler.

Das heißt, fast die Hälfte der Mitarbeiter war benachteiligt ...

Ja, ich hoffe, das wird sich nicht bei der Evaluierung auswirken.

Wann war die Evaluierung, und wer war der Vorsitzende der Kommission?

Unser Institut wurde am 11.Oktober 1990 von der Evaluierungskommission für die Geisteswissenschaften besucht, der etwa 20 Kollegen aus verschiedenen geisteswissenschaftlichen Disziplinen, darunter Historiker und Literaturwissenschaftler, angehören. Vorsitzender ist der Historiker Kocka. In unserem Institut waren fast nur Wissenschaftler aus der alten Bundesrepublik. Die Kompetenz der Kommission möchte ich betonen. Die Mitglieder fragten sachlich und traten nicht überheblich auf. Einige Kommissionsmitglieder kannten unsere Arbeiten, weil wir mit ihnen auch vorher schon zusammenarbeiteten.

Wie lief der Evaluierungstag ab?

Zuerst fand ein einführendes Gespräch mit leitenden Wissenschaftlern unseres Instituts statt. Wir hatten unseren Wissenschaftlichen Rat dazugebeten. Zusammen mit der Kommission waren wir 40 Personen. Das schien den Evaluierern dann doch zuviel, deshalb wurde das Gespräch mit dem Wissenschaftlichen Rat auf den Nachmittag verschoben. Bei dem Eröffnungsgespräch standen allgemeine Fragen an, sowohl zur Vergangenheit als auch zu allgemeinen Vorstellungen über künftige Strukturen. Etwas verwundert waren wir über Fragen, ob es immer noch die Zensur gäbe oder ob wir jetzt selbständig arbeiten. Es ging auch um die Rolle der SED im Institut, um westliche Forschungstrends, die wir vielleicht nicht bemerkt hätten. Da schienen die Evaluierer untereinander nicht immer einer Meinung zu sein.

Danach gab es dann zwei Runden innerhalb der Arbeitsbereiche des Instituts, je nach den Interessen der Kommissionsmitglieder, also von klassischen akademischen Editionen bis hin zur DDR-Literatur und Osteuropa-Forschung. Dabei wurde mit Mitarbeitern unter Ausschluß der jeweiligen Leiter gesprochen. Zweimal zog sich die Kommission zu internen Beratungen zurück. Am späten Nachmittag setzte sie sich noch einmal mit der Runde vom Vormittag zusammen.

Hat man Ihnen Andeutungen über das Ergebnis des Besuchs gemacht?

Offiziell nicht, aber in Gesprächen klang einiges an. Der Gesamteindruck war positiv, dennoch sind wir inzwischen sicher, daß unser Institut aufgelöst wird. Einzelne Forschungen werden in neuen Strukturen weitergeführt werden können, in welchem Umfang, ist allerdings offen.

Werden Sie möglicherweise an eine Universität gebunden?

Das hoffen wir sogar für möglichst viele. Vom Wissenschaftsrat wurde von Anfang an politisch darauf orientiert, die Institute an Universitäten zurückzuführen (wobei unser Institut gar keine universitären Ursprünge hat). Allerdings kann uns bei den gegenwärtigen Finanzierungsproblemen keine Universität aufnehmen. Wir wollen nicht andere Forscher von ihren Stellen verdrängen. Ich bestreite nicht, daß universitätsgebundene Forschung durchaus geistig sehr lebendig und produktiv sein kann. Aber man kann auch nicht behaupten, daß nur universitätsgebundene Arbeit Ergebnisse bringen könnte. Das wäre vielleicht stärker zu bedenken. In der Vergangenheit wurden wir oft von westlichen Kollegen um unsere Möglichkeiten zu konzentrierter Forschung beneidet, und unsere Ergebnisse fanden Anerkennung.

Dann konnten Sie der Evaluierung doch mit einem guten Gefühl entgegensehen.

Genau das hat mir ein Kollege aus Frankreich auch geschrieben: Wenn nach wissenschaftlichen Kriterien evaluiert wird, haben Sie doch gar nichts zu befürchten. Das hieße dann übrigens auch, die an sich vernünftige Durchmischung von Forschungsgruppen in beide Richtungen vorzunehmen und nicht nur Einbahnstraßen von West nach Ost einzurichten.

Aber dennoch sind Sie mit der Evaluierung unzufrieden.

Gegen eine wissenschaftliche Evaluierung hat niemand etwas einzuwenden. Aber durch die Unklarheiten der künftigen Finanzierung und der Rechtsgrundlage gibt es viel persönliche Unsicherheit, auch bei technischen Mitarbeitern. Es geht für uns um Existenzfragen. Da würden wir gern wie erwachsene Menschen behandelt werden und gleichberechtigt mit den Kommissionen nach Lösungen suchen. Man sollte im Wissenschaftsrat mit uns und nicht über uns entscheiden.

Befürchten Sie, daß die Geisteswissenschaften vergleichsweise stiefmütterlich behandelt werden?

Wenn ich bedenke, was jetzt in der Welt und in Deutschland passiert, kann ich nur hoffen, daß nicht die ganze Wissenschaft stiefmütterlich behandelt wird.

In der DDR haben einige wenige Literaturwissenschaftler bestimmte Schriftsteller für sich vereinnahmt, wie Werner Mittenzwei Brecht. Damit hatte er auch ein Monopol und bestimmte mit seiner Brecht-Interpretation das Brecht—Bild der DDR.

Vereinnahmen und Monopol sind hier ganz unangebrachte Worte. Gerade Mittenzwei wollte mit Brecht das Denken über Literatur und über Gesellschaft in der DDR erweitern. Er hat ihn benutzt, um die undogmatischen Vorstellungen Brecht'scher Gesellschaftskritik zu propagieren. Seine Brecht-Interpretation war für die DDR-Entwicklung sehr wichtig. Aber es wäre natürlich schön, wenn künftig mehr Wissenschaftler an einem Thema arbeiten könnten. Das fehlte in der DDR oft, und auch dadurch kam es zu einseitigen Betrachtungen. Es wäre sicher noch produktiver gewesen, wenn andere Mittenzwei hätten widersprechen können.

Haben sich DDR—Literaturwissenschaftler diese Interpretation gesucht, um damit mögliche menschliche Schwächen eines Schriftstellers zu umgehen?

So kann man das nicht sagen. In der DDR-Literaturwissenschaft gab es durchaus methodisch sehr unterschiedliche Ansätze — dichtungs- und werkbezogene oder auch auf das Leben der Autoren konzentrierte Literaturbetrachtung. In unserem Institut spielten die Funktionen und die gesellschaftlichen Wirkungen von Literatur die wichtigste Rolle. So hat auch Mittenzwei über Brecht gearbeitet. Diese Betrachtungsweise stieß auf Kritik bei vielen Kollegen an den Universitäten, die uns vorwarfen, die Literatur zu vernachlässigen. Sicher waren menschliche Schwächen bei großen Figuren in der DDR nicht gern gesehen. Bis hin zu Marx und Engels sollten alle Vorbilder sein.

Einige „problematische“ Bücher Brechts, wie das Arbeitsjournal und Meti erschienen zuerst in der BRD und dann erst in der DDR. Viele andere Bücher erschienen überhaupt nicht in der DDR. Woran lag das?

An ihren Inhalten. Was uns betrifft: Das Institut hat sich — bis auf einzelne — rausgehalten. Daran halte ich nach wie vor für richtig, daß man seine unmittelbare Gegenwart nicht allzu wichtig nehmen soll. 1985 wurde eine Arbeit aus unserem Institut scharf kritisiert, in der es um Probleme beim Erscheinen bedeutender Bücher von Hanns Eislers Faustus bis Christa Wolfs Nachdenken über Christa T. ging. Es war eine sehr kritische Darstellung der DDR-Kulturpolitik. Wir wollten nicht, daß unser Institut aufgelöst wird. Das Buch wurde umgeschrieben — es hat dabei in mancher Hinsicht sogar gewonnen. Geschichte schien ungefährlicher, da wurde man in letzter Zeit kaum noch geprügelt.

Konnte man sich wirklich raushalten?

Wir hatten Freiräume. Wir haben uns bewußt nicht in die Erziehung der DDR-Schriftsteller eingemischt, auch wenn es von uns gefordert wurde. Wir fühlten uns wie auf einer Insel. Heute wissen wir, daß wir viel zu wenig darüber hinaus gewirkt haben; aufgelöst werden wir nun doch.

Das Gespräch führte

Bärbel Petersen.

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