piwik no script img

Ossi-Witze machen nur noch die Wessis

Die Seele des Volkes ist krank/ Der Ossi hat nichts mehr zu Lachen: 86 Prozent sehen sich als Bürger zweiter Klasse  ■ Von Klaus von Empt

Berlin. In schlechten Zeiten blüht der Witz, sagt man. Deshalb hatten die ehemaligen DDR-Oberen schon vor der Wende nichts zu lachen. Das Volk machte seine bissigen Scherze mit und über Honecker, Mielke, Stoph und Kompanie. Die SED-Politik befand sich auf Talfahrt, der politische SED-Witz hatte Hochkonjunktur: „Was ist der Lieblingssport im ZK? — Bobfahren. Links 'ne Mauer, rechts 'ne Mauer und immer schön bergab.“

Fünf Monate nach der deutschen Einheit lacht der Ossi kaum noch. Die Stimmung ist mies, die wirtschaftliche Lage oft katastrophal, die Zeiten sind schlecht. Und — kein Widerspruch — der politische Witz ist tot. „Den Leuten ist nicht nach Witzen zumute“, so eine Sprecherin des „Telefons des Vertrauens“, eine Art gesellschaftlicher Seelsorge in Ost- Berlin. „Die Menschen, die uns gegenwärtig mit ihren Problemen ansprechen, sind ernst und traurig gestimmt.“ Damals, vor der Wende, in einer ganz anderen Situation, ging es den DDR-Menschen auf andere Art schlecht. Und ein Witz jagte den anderen. Galgenhumor nannte man das, z.B.: „Als die Sonne heute Morgen über der DDR aufging, grüßte sie Honecker mit den Worten ,Guten Tag, Herr Generalsekretär‘. Als sie wieder unterging, sagte Erich Honecker: ,Guten Abend, liebe Sonne. Vielen Dank. Ich hatte einen guten Tag‘. Und die Sonne antwortete: ,Is mir doch wurscht. Ich bin jetzt im Westen.‘“ Jetzt gehört der Ossi zum demokratischen Westen. Nach der gesamtdeutschen Einigungseuphorie ist west-/ostdeutscher Alltag eingetreten. Mehr noch. Viele Ostdeutsche sehen sich weiter hinter den Barrieren: „Wir sind doch überall ausgegrenzt.“ — „Es wird doch alles über unsere Köpfe hinweg entschieden.“ — „Ich fühle mich völlig unter Wert behandelt.“ — „Wir sind doch nur Bürger zweiter Klasse.“

Kein Wunder, daß der Chef der SED-Nachfolgepartei PDS, Gregor Gysi, diese Stimmung aufgreift und von einer „Besatzer-Mentalität“ der Wessis spricht, die die Ostbürger in die Ecke drängt. Wer sich zur Zeit mit Menschen in Ostdeutschland unterhält, sieht die jüngsten Umfrageergebnisse bestätigt, nach denen sich 86% als Bürger zweiter Klasse sehen. Wunsch und Wirklichkeit klaffen für viele immer weiter auseinander. Politische Konflikte stehen bei fast jedem ins Haus. Für viele reicht die Litanei an Solidaritätsadressen aus Bonn längst nicht mehr.

„Es ist da auch so eine Leere entstanden“, meint ein 42jähriger Ostberliner, „man hat jetzt plötzlich das Gefühl, man habe bisher völlig umsonst gelebt. Es entwickelt sich nichts nach vorn. Nur Arbeitslosigkeit und wachsende Kosten scheinen auf uns zuzukommen. Wir stecken irgendwie in einem politisch-gesellschaftlichen Vakuum.“ Und: „In einem luftleeren Raum scherzt man nicht.“ Schlechte Zeiten für Ossi- Witze — im Osten. Im Westen dagegen bekommt dieser Witz nahezu folgerichtig einen neuen Stellenwert. Der so viel besser gestellte Westdeutsche nimmt den armen Bruder und die arme Schwester auf den besagten Arm. In West-Berlin beantwortet man die Frage „Was ist der Unterschied zwischen Terrorist und Ossi?“ so: „Der Terrorist hat Sympathisanten.“ Und der kürzeste Ossi- Witz heißt im Sinne des Wessis: „Es treffen sich zwei Ossis bei der Arbeit...“ Nur bei öffentlichen Protestkundgebungen im Osten kommt der Mutterwitz der Vor-DDR-Wende- Ära noch zum Tragen. Auf einem Transparent an der Humboldt-Universität in Berlin (Ost) — dort sollen einige „un-westliche“ Fakultäten aufgelöst werden — liest man: „Stalinismus gerodet — Demokratie gesät — Kohl geerntet.“ dpa

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen