: 100.000 Elektroarbeitern droht das Aus
■ In Regierungskreisen befürchtet man jetzt die größte Entlassungswelle der Nachkriegszeit in der Metall- und Elektroindustrie/ Auch Westberliner Betriebe, vor allem aber Firmen im Ostteil sind betroffen — nicht mehr konkurrenzfähig
Berlin. Der Berliner Metall- und Elektroindustrie droht die größte Massenentlassungswelle seit dem Krieg. Wie die taz gestern aus Regierungskreisen erfuhr, gibt es konkrete Anhaltspunkte dafür, daß in den kommenden Monaten und Jahren in Berlin möglicherweise mehr als 100.000 Beschäftigte der Metall- und Elektroindustrie ihren Arbeitsplatz verlieren können. In Prozentzahlen bedeutet dies einen Arbeitsplatzabbau von über 40 Prozent in der Metall- und Elektroindustrie — wenn man die Beschäftigtenzahlen von Mitte 1990 zugrunde legt. Nach Schätzung der IG Metall waren damals in Ost-Berlin rund 130.000 und in West-Berlin rund 100.000 Menschen in dieser Branche tätig. Der Industriezweig ist in Berlin und Umland mit Abstand der größte.
IG-Metall-Sprecher Detlef Kuchenbecker konnte die aus Regierungskreisen genannte Zahl nicht bestätigen. Er begründete dies damit, daß die IG Metall noch mit der Auswertung des voraussichtlichen Arbeitsplatzabbaus in Folge von Betriebsschließungen oder Produktionsverlagerungen beschäftigt sei. Auf die Umfrage der 'Berliner Zeitung‘ angesprochen, die zum 1. Juli einen Abbau von 40.000 Arbeitsplätzen in der Metallbranche ermittelt hatte, erklärte Kuchenbecker: »Ich schließe nicht aus, daß die Zahl nach oben korrigiert werden muß.«
Von den anstehenden Entlassungen sind die ArbeitnehmerInnen in beiden Hälften der Stadt betroffen. Nachdem unlängst bekannt wurde, daß sich das Großunternehmen SEL mit 2.700 Arbeitsplätzen aus Berlin zurückziehen wird, wollen nun auch Firmen wie AEG, Siemens, und Nixdorf in West-Berlin Arbeitsplätze abbauen (die taz berichtete). Noch schlimmer sieht es im Ostteil der Stadt aus, wo viele ArbeitnehmerInnen de facto ohnhin schon arbeitslos sind, der Form halber aber unter die Kurzarbeiterregelung fallen. Mit dem Wegfall der Kurzarbeiterregelung am 30. Juni wird die Zahl der Arbeitslosen drastisch zunehmen. Die angekündigten Massenentlassungen in dem Elektro-Apparate- Werk Treptow (EAW) — 1.900 Arbeitsplätze — und der Fernsehelektronik GmbH (5.300 Stellen) sind wohl nur die Spitze des Eisbergs.
Hintergrund der anstehenden Massenentlassung ist vor allem der Abbau der Berlinförderung ab dem Sommer. Nach Einschätzung von Fachleuten können viele Westberliner Firmen die Arbeitsplätze dann nicht mehr halten. Der Grund: Viele Unternehmen haben in Berlin — im Gegensatz zu den Betrieben in den Alt-Bundesländern — nicht den Sprung von der Elektromechanik zur Elektronik geschafft. Dieser Mißstand wurde durch die Berlinförderung überdeckt. Die Situation der Ostberliner Firmen ist allerdings noch fataler. Sie sind auf dem Weltmarkt nicht konkurrenzfähig: Ihr Standard ist seit 20 Jahren veraltet. plu
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