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Anschläge auf Londoner Bahnhöfe

Ein Toter und 41 Verletzte/ Die Polizei vermutet in der IRA die Täter/ Anschläge waren von Anrufer „mit irischem Akzent“ angekündigt worden/ Sämtliche Fernbahnhöfe Londons geschlossen  ■ Von Ralf Sotscheck

Bombenanschläge auf zwei Fernbahnhöfe in London, bei denen ein Mann getötet wurde, haben gestern vormittag ein Verkehrschaos in der englischen Hauptstadt ausgelöst. Die erste Bombe explodierte auf dem Bahnhof Paddington um kurz nach 4 Uhr morgens und richtete lediglich Sachschaden an. Bei dem Anschlag auf den Victoria-Bahnhof drei Stunden später während des Berufsverkehrs kam ein Mann ums Leben, 41 Personen wurden verletzt, viele davon schwer.

Die Bombe war neben einer Telefonzelle auf dem Bahnsteig an der Ostseite versteckt. Der Leiter der Antiterroreinheit von Scotland Yard, George Churchill-Coleman, gab auf einer Pressekonferenz bekannt, daß um 7 Uhr eine telefonische Warnung eingegangen sei. Der Anrufer mit irischem Akzent habe sich als Sprecher der Irisch-Republikanischen Armee (IRA) zu erkennen gegeben und erklärt, in 45 Minuten würden Bomben auf allen Fernbahnhöfen explodieren. Zwar habe die Polizei daraufhin die Bahnhöfe durchsucht, man habe sie jedoch nicht geschlossen, weil „jeden Tag ein halbes Dutzend solcher Anrufe“ eingingen, sagte Churchill-Coleman. Normalerweise benutzt die IRA bestimmte Codewörter, die mit der Polizei abgesprochen sind, um die Authentizität des Anrufers nachzuweisen. Churchill-Coleman gab nicht bekannt, ob das auch in diesem Fall geschehen war. Die Eisenbahngesellschaft „British Rail“ schloß sofort sämtliche Londoner Fernbahnhöfe und die angeschlossenen U-Bahn-Stationen. Eine halbe Million PendlerInnen waren davon betroffen. Innenminister Kenneth Baker zeigte sich kurz nach Bekanntwerden des Anschlags „entsetzt und angewidert“. Er äußerte die Vermutung, die IRA habe mit dem Anschlag auf den Amtssitz des Premierministers John Major in der vergangenen Woche eine neue Offensive in Großbritannien eingeleitet.

Der Terrorismus-Experte Ian Geldard sagte jedoch: „Falls es sich bei den Tätern tatsächlich um die IRA handelt, so wäre das eine radikale Abkehr von der Taktik, militärische und politische Ziele anzugreifen, um einen möglichst großen Propaganda-Coup zu landen.“ Die IRA hat seit Dezember 1983 keine Anschläge in Großbritannien verübt, bei denen „Zivilisten“ getötet wurden. „Nach dem Anschlag auf das Kaufhaus Harrod's gab die IRA bekannt, sie habe die verantwortliche Einheit nach Nordirland zurückbeordert und vor ein Kriegsgericht gestellt“, sagte Geldard.

Auch die inzwischen verstärkten Sicherheitsvorkehrungen können nach Ansicht des Experten Paul Cotton Anschläge auf „weiche Ziele“ nicht verhindern: „Es ist so leicht. Da reicht eine Bombe in der Größe einer Hamburger-Schachtel.“

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