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Planmäßige Abfahrt 15.19 Uhr auf Gleis 3...

■ Mit dem Schienenbus von Charlottenburg über Spandau und Wustermark nach Nauen/ Beobachtungen während der Fahrt mit dem sogenannten Ferkel-Expreß/ Monotonie auf dem Land, Bahnhofslandschaften wie von Rainer Werner Fassbinder

Berlin-Land. Den Nahverkehrszug T11376, planmäßige Abfahrt um 15.19 Uhr auf Gleis 3, übersieht man beinahe. Auf dem endlos langen Bahnsteig des Bahnhofs Charlottenburg am Stuttgarter Platz sehen die beiden weinroten Wägelchen aus wie Spielzeug, und die S-Bahn auf dem Nebengleis wirkt dagegen wie eine monströse Riesenschlange. So muß man sich im Trabi auf einer achtspurigen Autobahn voll rasender BMWs vorkommen, denke ich, als der Schienenbus losholpert und auf der sehr breiten Hauptbahntrasse über diverse Weichen seine Spur findet: winzig, langsam, verletzbar.

Die Fahrt soll nach Nauen gehen, Luftlinie 25 Kilometer in Richtung Westen. Fahrtzeit: 47 Minuten. Fast alle Bänke im gut beheizten vorderen Wagen sind seit Minuten schon besetzt, als der Zugführer eintritt. Wie Karajan einst in die Philharmonie: Ernst und konzentriert wirft er einen kurzen Blick auf das versammelte Publikum, die gucken erwartungsvoll zurück, und dann beginnt er an allerlei Spielzeughebeln und Knöpfen zu hantieren. Bis auf zwei junge umland-erkundende West-Berliner mit Videokamera, Typ Fotograf und Künstler — und den taz-Reporter nehmen alle im Wagen den Zug richtig ernst. Sie fahren nach Hause.

Am ICC vorbei nach Spandau Hauptbahnhof

Am ICC vorbei ruckeln wir erst durch den Wald und dann durch Spandaus Kraftwerk- und Lagerflächen-Brache. Ein Teenie-Liebespaar kloppt sich munter auf der Nachbarbank. Eine Plastiktüte mit einem dicken Plattenstapel aus einem Ku'damm-Music-Discount verrrät den Grund ihrer Reise in die Weltstadt. Erste Station ist Spandau Hauptbahnhof, wie eingefleischte Reichsbahner und Havelstädter Separatisten ihren verpennten Fernbahnhof immer noch nennen. Trotz unserer Winzigkeit werden wir wie ein richtiger Zug per Lautsprecher begrüßt. Man hat sogar ein Pappschild gemalt und aufgehängt.

In Staaken, wo wir — ganz Eilzug — ebenso wenig anhalten wie am Spandauer Westbahnhof — kommt noch einmal Transitfeeling auf. Die Trasse führt an der ehemaligen Grenze noch durch einen eingemauerten Korridor. Dann der nahe Osten, der hier eigentlich Westen ist: Das Land ist zerpflügt von Fernstromleitungen, kreuz und quer überspannen sie schmutzige märkische Alleen, Gehöfte, viele Häusergerippe.

»Das Rap-Dorf« — hat jemand hinter den Ortsnamen Dallgow bei Berlin geschrieben. Hier halten wir zum ersten Mal. Die Bahnhofsvorsteherin kommt fröstelnd aus ihrem Häuschen. Ihr Jüngstes im Krabbelalter darf die grüne Kelle tragen. Im »Deutschen Haus« nebenan können wir in die Küche gucken. Man wäscht Salat. »Advent, Advent, ein Skinhead brennt«, steht an der Wand im Wartehäuschen. Das Liebespaar ist soeben gemeinsam eingenickt. Schließlich Wustermark RBF, die wichtigste Station auf unserer Fahrt. Immerhin »Umsteigen nach Rathenow«. Der Bahnkörper dampft, aus Stellwerken und uralten Lokschuppen steigt bläulich Rauch auf — so künstlich, als habe der Faßbinder hier gerade ein altdeutsches Eisenbahner-Melodram auf dem imposanten Bahnhof gedreht und Trümmerfrau Hanna Schygulla stakste nun gleich auf hochhackigen Schuhen einem tränenreichen Abschied entgegen.

Über ein Nebengleis und eine weitere Station namens Wustermark schlingern wir nach Bredow. Die Landschaft ändert sich von Acker- zu Weideland. Dazwischen Müllhalden, Autofriedhöfe, Ruinen, Schwerindustrieschlote, die auch jetzt am Samstag abend vor sich hinqualmen.

Nauen. Auf dem fast menschenleeren Bahnhofsvorplatz gibt es nicht einmal die nun FNL-typische lange Schlange unbeschäftigter Taxifahrer. Nur zwei einsame Busse nach irgendwo. Bis auf einen Opa, der von seiner Paterrewohnung aus argwöhnisch die Menschenleere überwacht, ist niemand zu sehen.

Die Stadt bietet alle Klischees des Kohl-Lambsdorffschen Wirtschaftswunders: zerbröselnde Jahrhundertwende-Bierbarockarchitektur, dazwischen historische märkische Straßenhäuschen, »West«-Zigarettenreklame, Ruinen. West-Bankfilialen locken mit Krediten, Imbißbuden an jeder Ecke, davor jede Menge frisch angeschaffter Gebrauchtwagen. Der Einzelhandel befindet sich in einer Art zweiten Ausverkauf: Nach dem Verramschen des DDR- Erbes verscherbelt man nun schon resigniert die Waren des erhofften- Wirtschaftswunders. Die Inhaber liebevoll neu eingerichteter Videotheken, Boutiquen und Shops überbieten sich in ihren Schaufenstern mit Prozentnachlässen, Ausverkäufen, Sonderpreisaktionen. Praktisch: PDS und Arbeitsamt residieren im selben Bau.

Den Refrain »Berlin, dein Herz kennt keine Mauern« singen einige der ausschließlich männlichen Gäste in der Schultheiß-Kneipe mit dem Radio mit. Die Bedienung übertönt das ganze mit einer komplizierten Sondierungsdebatte. War der zweite Schnaps von Mischa nun von Heinz oder geht der auf den alten Deckel? Kinder, ja was nu... Der jüngste im Laden zeigt stolz einen nagelneuen Westreisepaß. Einer gröhlt: »Brauchste den, damit de nach Berlin reisen kannst?« Dann machen sie aber voll Anerkennung und ein bißchen neidisch Witze über seine Jugend. Da müsse sich die Bedienung doch in Acht nehmen, bei so einem jungen Spritzer. »Iwo, der weiß ja noch jar nüscht, wie's jeht...«

Linkshänder leben neun Jahre kürzer

Die Lokalzeitungen bringen seitenweise Horror pur: Bauern bedroht, Chemieindustrie stirbt. Die brandenburgische Sozialministerin hat die bankrotten Dörfer und Städtchen per Rundbrief händeringend gebeten, nicht auch noch die Kindergärten zu schließen. Aber Geld hat sie auch keines. Selbstmordwelle in Kleinmachnow. 40 Prozent Arbeitslose in Mecklenburg. Eine Milliarde fehlt da, zwei Milliarden dort. Die Mieter sollen Straßenreinigung und Müllabfuhr nun aber gefälligst selber zahlen. Ein Foto vom überfüllten Arbeitsamtskorridor in Potsdam. Die Leute nehmen auch noch ihre Kinder mit, beklagt das Lokalblatt in der Bildunterzeile. Nicht nur schlechte Nachrichten also für die Ossis: Linkshänder leben statistisch neun Jahre weniger, hat die Universität von British Columbia erforscht.

Der Weg zum Bahnhof ist stockfinster. Dort kommt ganz plötzlich Leben auf. Man erwartet den Schnellzug nach Schwerin, der hier in Nauen, eine Stunde hinter Berlin- Lichtenberg, die Lok gewechselt kriegt. Vier Reichsbahner fertigen geschäftig den Express ab. Die junge blonde Schaffnerin schimpft, weil's immer ihr passiert: Er ist stockbesoffen, und sie schläft tief, wie soll man bei solchen Leuten bloß die Billets abknipsen?

Dann wieder Totenstille. Schließlich der »Ferkelexpress«, wie der Schienenbus auch genannt wird. Abfahrt 19.10 Uhr, nur bis Spandau- Hauptbahnhof, ein Fahrgast, ein Fahrer... Thomas Kuppinger

Der Schienenbus nach Nauen verkehrt täglich um 7.23 und um 15.19 Uhr ab Bahnhof Berlin-Charlottenburg. Zurück geht's ab Nauen um 6.56, 7.40, 19.10 (nur bis Spandau) und 21.19 Uhr. Weitere Fahrten gibt es ab Charlottenburg bis Wustermark RBF mit Anschlüssen nach Nauen, Rathenow, Stendal etc. Angagen ohne Gewähr; Auskünfte erteilt die Reichsbahn. Nach Nauen gilt die Umweltkarte.

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