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Der Nebel des Grauens auf dem Berliner Ring

■ Die Zahl der Vekehrstoten in den neuen Bundesländern stieg 1990 um 75 Prozent / Auf den Autobahnen wird gerast, was die Karre hergibt

Als sich für den DDR-Bürger Herbert K. im Spätsommer 1989 die Grenze von Ungarn nach Österreich öffnete, lud der Familienvater Frau und Kind glücklich in seinen Mazda. Von Fernsehreportern gefragt, was er als erstes mit der neugewonnenen Freiheit anfangen wolle, antwortete er mit leuchtenden Augen: »Vollgas fahren!« Dann kurbelte er das Fenster hoch und startete per Kavalierstart ins Übersiedlerheim.

Das Statistische Bundesamt in Wiesbaden rechnete in dieser Woche, 16 Monate nach dem Mauerfall, der Presse die Kosten der Reisefreiheit vor. Allein im vergangenen Jahr wurden auf den Straßen der fünf neuen Länder 3.130 Personen mittels Kraftwagen umgebracht — das sind 75 Prozent mehr als im Vorjahr. Auf dem Gebiet der alten Bundesrepublik war die Zahl der Verkehrstoten mit 7.909 Opfern dagegen so niedrig wie nie zuvor. Die Zahl der FNL-Verkehrstoten des Jahres 1990 liegt vierzig mal so hoch, wie die der Maueropfer, die vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989 gezählt wurden. Auf der Strecke blieben im wahrsten Sinne des Wortes alte Menschen und Kinder. Die Zahl der Verkehrstoten, die im Alter unter 14 Jahren starben, stieg in der Ex- DDR um 80 Prozent, im Regierungsbezirk Chemnitz hat sie sich sogar verdreifacht.

Über das Gemetzel auf Ostdeutschlands Straßen braucht man sich kaum zu wundern. Die neuen Bundesbürger legten sich in den vergangenen zwölf Monaten fast eine Million Neuwagen zu — nach einer Statistik des ADAC erhöhte sich der Kraftfahrzeugbestand von 5.958.300 auf 6.902.800 Exemplare, Tendenz weiter steigend.

Massenhaft stiegen die Brandenburger, Sachsen, Thüringer, und Mecklenburger von ihrem 26 PS starken Trabi auf gebrauchte Westwagen um, deren Pferdestärken drei- bis viermal so hoch sind. Während sich die »Wessis« in einem Zeitraum von über 30 Jahren vom kleinen Gogo zum dicken Mercedes heraufarbeiteten, haben die »Ossis« den PS- Sprung dagegen innerhalb weniger Monate geschafft. »Das ist so, als ob ich einen Fahrradfahrer einfach auf ein Motorrad setze!« meint Hans-Joachim Illmann, Leiter der Verkehrsabteilung beim Berliner ADAC, dazu.

Das Kraftfahrtbundesamt hält das Risiko, auf einer Autobahn in den neuen Bundesländern zu verunglücken, inzwischen für doppelt so groß wie im Rest der Republik. Für viele Westberliner ist die ehemals gemütliche Fahrt über die alte Transitstrecke deshalb zum Horrortrip geworden. In Kolonnen wird unverschämt gedrängelt, mit der Lichthupe gefuchtelt, plötzlich ausgeschert, unvermittelt gebremst und ansonsten vor allem gerast. Bei 550 deutsch-deutschen Unfällen in der Gegend um das bayrische Hof, das nahe an Thüringen liegt, lag die Schuld in 404 Fällen beim DDR- Fahrer.

Daß in der Ex-DDR noch immer Tempo 100 gilt, interessiert nur noch die Autofahrer, die aus ihrem Wagen nicht mehr rausholen können: Meist wird gebrettert, was die Karre hergibt. Und wenn der Nebel langsam auf Brandenburgs Straßen herniedersinkt, wird der Ausflug ins Blaue für viele zur Fahrt ohne Wiederkehr. Vor allem in der Gegend um Potsdam und nördlich von Berlin, so warnt ADAC-Mitarbeiter Illmann, gebe es viele solcher Nebelfallen. Wegen der unbekannten Gegend, fehlender Leitplanken und schlechter Asphaltierung wird der Trip über die Landstraßen dann lebensgefährlich. Illmanns Tip in solchen Fällen: Licht an, Radio aus, Fenster auf, Scheibenwischer marsch.

Die Berichte der Polizei aus Brandenburg werden von Woche zu Woche dramatischer. Kostproben aus dem Zeitraum Januar und Februar: Ein Mercedes-Fahrer rast bei Potsdam auf der Bundesstraße 2 in eine Kurve und in den Tod — Geschwindigkeit falsch eingeschätzt. Ein Golf- Fahrer will in Neuruppin auf eine Hauptstraße einbiegen und wird von einem Militär-LKW zermalmt — er hatte die Vorfahrt nicht beachtet. Ein Trabant-Fahrer knallt im Kreis Prenzlau gegen einen Baum, der Wagen explodiert, der 23jährige stirbt im Krankenhaus — die Bremsen hatten versagt. Zwei Jugendliche klauen in Werneuchen, Kreis Bernau, einen neuen Audi, der Fahrer verliert beim Überholen die Gewalt über den Wagen. Sie fahren gegen einen Baum — beide waren sofort tot.

Allein an den Wochenenden kommen in Brandenburg mittlerweile regelmäßig etwa zehn Menschen ums Leben, die Zahl der Verletzten liegt allein am Samstag und Sonntag oft über zweihundert.

Während die Autofahrer Ost mit ihren zum Teil verkehrsunsicheren Gebrauchtwagen überfordert sind, fühlen sich viele Westler dagegen allzu sicher. Sie sind an die problematischen Straßenverhältnisse in den neuen Ländern kaum gewöhnt, fahren aber mit der Überzeugung durch die Ex-DDR, alles zu beherrschen. An fehlende Straßenschilder, holpriges Kopfsteinpflaster und kurvenreiche, enge Landstraßen müssen sich Westberliner, die nur bequemen Stadtverkehr kennen, erst gewöhnen. Und um einigermaßen sicher fahren zu können, braucht man nach Schätzung des ADAC rund 70.000 Kilometer Erfahrung hinter dem Steuer. Denn die meisten Autofahrer, ob aus Ost oder West, haben keinen blassen Schimmer davon, wie ihr Wagen in extremen Situationen reagiert. Testfrage: Haben Sie schon mal eine echte Vollbremsung auf einer nassen Straße gemacht? Sie werden sich wundern, wo ihr Auto hinfährt.

Während die Vopos Transitfahrer bis Anfang 1990 schon bei Tempo 120 an den Straßenwand winkten und ein saftiges Bußgeld kassierten, schien es im vergangenen Jahr so, als gebe es keine Polizei mehr. Jetzt soll aber wieder Ordnung in das Chaos gebracht werden. An dreihundert Stellen in den neuen Ländern hat die Polizei seit Anfang Januar Radarfallen aufgebaut. Ob die Maßnahmen dazu geeignet sind, die Zahl der Toten entscheidend zu senken, bleibt zweifelhaft. Denn die nächste große Reisewelle mit Restrisiko steht schon vor der Tür. Zu Ostern rechnen ADAC und Polizei mit einem in der Ex-DDR noch nicht dagewesenen Verkehrschaos. Die Reisefreiheit hat eben ihren Preis.

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