: Wilhelm Meister, zweiter Teil
■ Von der Kunst des Übersetzens. Zu Peter Brooks „Schriften zu Theater, Film & Oper 1946—1987“
Es könnte sein, daß jemand, der zum ersten Mal eine Inszenierung von Peter Brook sah, derart verblüfft wäre, daß er gern mehr über dessen Arbeit erfahren würde. Glücklicherweise hat Brook vor drei Jahren eine Zusammenstellung seiner Äußerungen über das Theater veröffentlicht: Zeitungsartikel, Festreden, Vorworte, Reiseberichte, Interviews... Der Titel der britischen Ausgabe bringt es auf den Punkt The Shifting Point, die sich ständig wandelnde Perspektive.
Ich las das Buch zunächst im englischen Original, um mir möglichst wenig von der Eigenart des Autors entgehen zu lassen. Alles darin war präzise, klar, sehr konkret und witzig gesagt. Mit einem Wort: Herrlich! Ich wollte das Buch nicht wieder in die Bibliothek zurückgeben müssen, sondern gern ein eigenes Exemplar zum Nachblättern haben. Bis jedoch eine Bestellung aus England eintrifft, vergeht in der Regel viel Zeit, und sie wird sehr teuer. Also sah ich mir die deutsche Übersetzung aus dem Alexander Verlag an. Zwar kostet auch sie sage und schreibe 48 Mark — sei's drum.
Was aber, wenn beim Transport ins Deutsche unterwegs zuviel verlorengeht? Das fängt schon beim Titel an: Wanderjahre! Aus dem Schlüsselwort für Brooks 45 Jahre lebendigster Theaterabeit, der sich immer neu verändernden Blickweise, ist ein deutscher Bildungsroman geworden: Wilhelm Meister, zweiter Teil. Die „Theatralische Sendung“ ist bei den deutschen Biedermännern angelangt. (Zwar kündigt der Verlag das Buch auch unter dem schönen Titel Der springende Punkt an, doch die Übersetzung dahinter ist leider die gleiche.)
Beim Vergleichen einiger Stellen, die ich mir angemerkt hatte, begann ich mehr und mehr die englischen Begriffe darüberzusetzen. Etwa hier: „Das ganze Problem des heutigen Theaters ist folgendes: Wie können wir erreichen, daß Stücke voll von Erfahrung sind?“ „Dense“, sagt Brook. „Das Theater ist der Bauch, worin sich die Nahrung in zwei gleiche Teile schneidet“, „metamorphose“, sagt Brook einfach: in „Exkremente und Träume“. Und dann: „Bei Shakespeare sollte ein Auftritt“, nein: „each moment“ genauso wichtig sein wie jeder andere. Und „reading“ ist keine „Textprobe“, sondern eine Leseprobe. Aber dann: „Wir müssen die Inszenierungen von all dem befreien, was in der Nachkriegsrenaissance von Stratford eine so wichtige Rolle spielte — weg von der Romantik, weg von der Übertreibung, weg von dem Pomp.“ Wieso Pomp? „Away from decoration“ heißt, weg vom Dekor, vom sich verselbständigenden Bühnenbild!
Weiter mit der Übersetzung des Kapitels über König Lear. „König Lears Gesellschaft ist heidnisch“, will sagen: Die Gesellschaft in König Lear ist eine heidnische, zugeich aber auch eine hochentwickelte. „Die wesentliche Grausamkeit“ dieses Stückes besteht auf deutsch daran, „einen Menschen zu verstoßen“. Das Englische — und Brook allemal — ist sehr viel präziser: „Turning outdoors“ heißt, einen alten Mann in eine Sturmnacht aus der Geborgenheit des Hauses hinaus „vor die Tür setzen“. Theater ist konkret. Shakespeare ist Theater. Warum folgt die Übersetzung dem nicht?
Betrüblich ist auch ihre Version der Afrikareise von Peter Brook und seiner Truppe. „Nichts wirkte sich besser auf die Schauspieler aus als die Ruhe des afrikanischen Publikums“. „Stillness“ meint jedoch nicht ein Publikum von lauter Quietisten, sondern aufmerksame, gespannte Stille. „Es war das Kostbarste bei diesen Aufführungen“; das Kostbarste „to play to“, sagt Brook. Und „je mehr wir riskieren“ entspricht nicht der radikaleren Erfahrung „the more we took the total risk“, die jedem Stadttheater und jedem Großstadtmusentempel so bitter abgeht. Dabei schien Brooks Truppe all das, was sie in Afrika zwischen sich und ihrem Publikum erlebten, so vollkommen „natural“ (und nicht intellektuell „einleuchtend“). Die Schausieler brachten dafür aber eben nicht „das richtige Maß an Selbstverständlichkeit“, sondern an „simplicity“ mit. Die genauen „elements of judgement“ stehen der blassen Phrase von der „kritischen Einstellung des Zuschauers“ gegenüber. Und so geht es immer weiter und weiter.
Wer Inszenierungen von Peter Brook sieht oder seine Reflexionen übers Theater liest, hat klar vor Augen, wie sehr wir allenthalben betrogen werden: betrogen um Kunst, um Theater, das heißt Wahrheit. Brooks Theaterarbeit erinnert wieder daran, daß das Theater so etwas wie Robert Musils internationales „Erdensekretariat der Genauigkeit und Seele“ sein kann. Theater ist selbst eine Kunst des Übersetzens: die Suche nach den richtigen Formen.
Was heißt: „Die Wirkung eines Shakespeare-Stückes auf der Bühne“, wenn doch „power“ gemeint ist? Besonders befremdet das Kapitel Die Maske — Wir verlassen die schützende Hülle. „Coming out of the shell“ ist das Hervorragendste, was ich in dieser Kürze über die Arbeit des Schauspielers las. Das angestrebte ferne Ziel ist hier jenes sich Heraustrauen aus dem Schneckenhaus, nein: herauskommen aus der Muschelschale wie die Perle am Ende einer langen Krankheit voller Ängste, Verwundungen, Einschlüssen und verborgenem Wachsen. Doch diesen Übersetzern hier — neben Gretchen Meier-Müller sind als Bearbeiter noch Ingrid Wewerk und Eric Peter Germain angeführt — gab offenbar kein Gott zu sagen...
Und schließlich noch eine „Kleinigkeit“: Der deutsche Verlag behielt sich vor, Abbildungen umzustellen oder auch wegzulassen, zum Beispiel jenes Foto von Natasha Perry als der Gutsbesitzerin Ranjeskaja im Kirschgarten. Einmal abgesehen davon, daß Natasha Perry Peter Brooks Frau ist und ihr in seinem Shifting Point zweifellos ein fester Platz gebührt: Der Kirschgarten war, soweit ich weiß, Brooks einzige Tschechow-Inszenierung bisher. Während das Bühnenbild in den Pariser Bouffes du Nord sich damals auf einen prächtigen Teppich und einige Kissen beschränkte, wurde sehr viel Sorgfalt auf die Kostüme von Chloé Obolensky verwandt. Sie schufen gemeinsam mit denen, die sie trugen, die ganze Atmosphäre. Der Alexander Verlag sah auf dem Bild jedoch nur Kopf und Schulter einer älteren Frau mit schwarzem Hut und Schleier und beschloß: Das brauchen wir nicht.
Theaterleute, da eure Sache ohnehin eine internationale ist, lest The Shifting Point im Original. Wir anderen hoffen derweil auf eine bessere, preiswerte Übersetzung. Lieschen Müller, bearbeitet von Marie-Luise Bott
Peter Brook: The Shifting Point . Edit. Methuen, GB 1987
Peter Brook: Schriften zu Theater, Film & Oper 1946-1987 , Alexander Verlag, Berlin 1989, 48DM
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