: Das Drama hat ein Haus besetzt
Ein Kritikerfrühschoppen und viel mehr in Ost-Berlin ■ Von Michaela Ott
Neben den vielen treuhänderisch endverwalteten und an den Westen übergebenen Einrichtungen der ehemaligen DDR gelangen in den verbleibenden Freiräumen doch gelegentlich Ideen zur Realisierung, die man sonst als „reine Illusion“ zu bezeichnen pflegt. In der Nähe des vormaligen Niemandslands, unweit des Reichstags, ins Haus des vormaligen Ministeriums für Kultur der DDR ist ein bewußt illusionäres FNL-Projekt eingezogen: das Drama. Das Drama selbst hat ein Haus besetzt. Die Aufführenden dieses „coup de théÛtre“ sind das „Autoren-Kollegium“, ein Theaterverlag, zu dem sich im Dezember 1988 einige DDR-Theaterautoren zusammenschlossen, um das Monopol des Henschel-Verlags, der sich Autoren der jüngeren und mittleren Generation gegenüber „nicht entsprechend aufgeschlossen“ zeigte, zu unterwandern.
Die Zulassungsgeschichte des Theaterverlags entbehrt dabei nicht der Ironie: vom damaligen stellvertretenden Minister für Kultur Klaus Höpcke noch am 3. November 1989 verboten, wurde ihm wenige Tage später die Zulassung erteilt. Am 1. August 1990 gelang es dem Verlag, als Mieter von vier Räumen in das Gebäude des ehemaligen Ministeriums für Kultur in der Clara-Zetkin- Straße 90 einzuziehen. Da entstand die kühne Idee, das ganze Haus zu übernehmen: unter Beistand des zu der Zeit amtierenden Ministers für Kultur Herbert Schirmer und unter Mithilfe von Volker Hassemer konnte das Haus schließlich am 27. September 1990 beim Ministerium des Inneren angemietet werden. Im Prinzip ist die Utopie eingelöst: Das Autoren-Kollegium hat einen unbefristeten Mietvertrag; die Gelder, die es durch Untervermietung des Hauses einnimmt, ist es gehalten, für Instandsetzungsarbeiten zu reinvestieren. Der einzige Unsicherheitsfaktor scheint die Nähe des Reichstags zu sein — man befürchtet, daß die neue Unterkunft eines Tages für Regierungsgeschäfte beansprucht werden könnte.
Neben dem Autoren-Kollegium residieren im Haus die „Unabhängige Verlagsbuchhandlung Ackerstraße“; Buchvertriebe wie Weiß- Buchservice und Libri; die interdisziplinäre Arbeitsstelle „Ästhetische Erfahrung und soziale Praxis“ der Humboldt-Universität; die Malschule der Brüder Posin; das Zentrum für Theaterdokumentation des ehemaligen Theaterverbandes der DDR; das Dokumentationsfilmstudio „Transfer Film und TV“; die Präsenzbibliothek des DDR-Kulturministeriums, deren Bestand von ca. 100.000 Bänden einen imponierenden Überblick über die DDR-Verlagsgeschichte von 1960 bis 1990 gibt. Daneben gibt es Atelierräume für Künstler, die Galerie Dr. Christiane Müller, die sich ausschließlich auf Kunst von Frauen konzentriert, und das Café „Clara 90“, das als Raum für Veranstaltungen genutzt werden soll.
Da „Haus Drama“ bis jetzt über keine eigene Bühne verfügt, können gegenwärtig nur Kleinprogramme einzelner Schauspieler angeboten werden: die Aufführungsreihe eröffnete im Februar Heide Kipp von der Volksbühne mit einem Richard-Leisig-Abend. In einer Lesungsreihe möchte man neben bekannten Dramatikern wie Thomas Brasch und Peter Turrini vor allem die hauseigenen Theaterautoren vorstellen. Vielversprechend ist die Idee, einmal im Monat einen Kritikerfrühschoppen zu veranstalten: Berliner Kritiker sollen zusammen mit einem Regisseur über dessen aktuelle Inszenierungen diskutieren.
Ein furioser Auftakt dazu war die erste Kritikerrunde mit Frank Castorf zu dessen Inszenierungen Die Räuber (an der Volksbühne) und John Gabriel Borkmann (im Deutschen Theater). Die Stellungnahmen der Kritiker waren dabei vor allem erhellend hinsichtlich der Relativität von Theaterkritik: In seltsamer Verkehrung sprach sich der bislang linientreue Kritiker der 'Berliner Zeitung‘, Professor Schuhmacher, in unverändert marxistischer Terminologie zugunsten des „enfant terrible“ Castorf aus, während Herr Preuß vom SFB („Galerie des Theaters“) und Ingo Langner vom Berliner 'Tagesspiegel‘ Castorfs Inszenierungen infantile und infantilisierende, publikumshörige und videogerechte Comic- und Trivialmachwerke nannten. Die Klassikerdestruktion, so Preuß, habe man im Westen vor 20 Jahren betrieben. Castorf sei also ein dem Westen hinterherhechelnder pseudowilder Publikumsschreck, gerade recht für unausgegorene Jugendgemüter — die müßten alle bescheuert sein, die Castorf mögen, sagte auch einer im Publikum. Gelegentlich gewann man den Eindruck, daß die Kritiker aus dem Westen eher von ihrer eigenen Rezeptionsübersättigung als von Castorfs bewußten Irritationsversuchen sprachen, während sich beim Kollegen aus dem Osten eine gewisse zeittypische Wendehaltung artikulierte.
Castorf zog den geballt auf ihn losprasselnden Invektiven dabei gerissen den Stachel: er lese Kritiken gerne, weil sie häufig gut formuliert seien, aber auf diese Art der väterlichen Zuwendung sei er nicht mehr angewiesen, wie man spätestens an seiner Räuber-Inszenierung sehen könne. Immerhin zeigte die Kritikerrunde, daß jemand wie Castorf noch zu Auseinandersetzungen provoziert, was an sich schon ein Bonus ist.
Lautes Denken, über Theater, über die eigene Geschichte schon aufgrund der Geschichte des Hauses, über die deutsch-deutsche Geschichte aufgrund der Lage im vormaligen Grenzbereich: nichts wünschen sich die beiden Geschäftsführer und konzeptionellen Gestalter Dr. Petra Pamer und Harald Müller mehr. Verständigung über die deutsche Vergangenheit soll „als roter Faden alle Veranstaltungen durchziehen“ — Begegnungsstätte soll das Haus werden, ein Ort der Annäherung: ein großartiges Projekt ist es bereits, bleibt zu wünschen, daß so viel Spektakuläres stattfindet, wie der Name verspricht.
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