: Mit Geschick und Arroganz
Der achtzigjährige Gouverneur Tokios, Shunichi Suzuki, kann sich der Wiederwahl sicher sein/ Der Wahlkampf ist zu einer reinen Persönlichkeitswahl für den Greis geworden ■ Aus Tokio Georg Blume
243 Meter hoch ragt das neue Rathaus von Tokio, Nippons höchster Wolkenkratzer, in den Metropolenhimmel. Vor dem Rathaustor steht Frau Inoue, eine feine Dame von achtzig Jahren: „Ich wollte dieses teure Ding unbedingt sehen, denn es läßt sich ja nur mit dem Kaiserpalast vergleichen. Dabei lächelt Frau Inoue, als wolle sie dem Gouverneur persönlich schmeicheln. Ob sie den denn mag, frage ich. „Immerhin ist er mein Jahrgang“, lächelt sie.
Shunichi Suzuki schreibt dieser Tage japanische Legende. Nicht nur, daß der alte Herr von Tokio vor wenigen Wochen mit seinem Amtssitz, dem neuen Rathaus, Nippons größten Prunkbau der Neuzeit einweihen konnte, ein Beton-Wunderwerk des japanischen Meisterarchitekten Kenzo Tange. Am Sonntag, so prophezeien es darüber hinaus alle Wahlauguren der Nation, werden die Tokioter Bürger den achtzigjährigen Konservativen auch noch das vierte Mal nacheinander zum Gouverneur der Hauptstadt wählen.
Er regiert über zwölf Millionen Tokioter und viele Millionen mehr, die täglich zur Arbeit ins Zentrum kommen. Dabei verfügt Suzuki über ein Stadtbudget von etwa 135 Milliarden Mark — das entspricht etwa dem Staatshaushalt Australiens. Der Autokrat Suzuki präsentiert sich zudem als „parteiunabhängig“, was genau genommen natürlich nicht stimmt, ihn aber doch aus dem Hin und Her der nationalen Parteischiebereien heraushält. Der alte Mann, so jedenfalls muß es den Tokiotern erscheinen, regiert die Metropole aus eigener Kraft und nicht im Dienste eines Höheren.
Das neue Rathaus ist der Beweis dafür. 157 Milliarden Yen oder annähernd 2 Milliarden Mark kostete der Gouverneurspalast. Als „Steuerturm“ diffamieren ihn die Gegenparteien, mit dem Suzuki seine „persönliche Arroganz“ zur Schau trage. Es ist das Eigenartige dieses Tokioter Wahlkampfs, daß all diese Vorwürfe den alten Stadtherrn nicht mehr treffen.
Auf die Frage, welches stadtpolitische Thema diesmal den Wahlkampf beherrsche, wissen die meisten Tokioter keine Antwort. Alle blicken mit Spannung auf den Zweikampf zwischen Suzuki und dem Kandidaten der Regierungspartei, Hisanori Isomura, einem ehemaligen Fernsehmoderator, der freilich chancenlos ist. Doch die wirklichen Probleme des Großstadtleben, die horrenden Miet- und Bodenpreise, die unkontrollierte Müllproduktion, die völlig unzureichenden Sozialdienste werden in Wahlkampf und Medien kaum erwähnt.
Großstadtprobleme kein Wahlkampfthema
Unerwähnt bleibt auch die hemmungslose Bodenspekulation, der zu Diensten die Yakuza-Banden — Nippons Großstadtmafia — einfache Bürger aus ihren Privatbehausungen vertreiben, damit im Herzen der Stadt lukrative Bürotürme in den Himmel wachsen können. Ganz zu schweigen auch von der Diskussion um mehr Spielplätze und Kindertagesstätten, die nötig wären, um die Mütter zu entlasten.
„Tokio ist eine der häßlichsten Städte auf der Welt“, sagt Gegenkandidat Isomura. Doch offenbar denken die meisten Bürger Tokios da anders. Für sie hat die Weltstadt auch eine Sonnenseite.
Denn sie ärgern sich nicht nur, sie freuen sich auch täglich daran, wie das Monstrum Tokio funktioniert — mit seinen Abermillionen U-Bahn- Fahrern, die alle U-Bahn-Schächte sauber hinterlassen, mit seinen irrwitzigen Himmeltürmen, die aller Erdbebengefahr spotten, mit seinen Tausenden von Minibars, die in der Anonymität unter Millionen die Heimlichkeit bewahren. „Es gibt in Tokio zwar viele Menschen, aber ein Chaos ist das deswegen noch lange nicht“, lautet die oft wiederholte, lakonische Bemerkung der Tokioter. Klar, daß von solcher Einstellung auch Suzuki profitiert.
Viel haben die Tokioter dem Stadtherrn dennoch nicht zu verdanken. Die eingreifenden Maßnahmen, die noch heute das Überleben der Großstadt sichern, in deren Einzugsgebiet dreißig Millionen Menschen leben, stammen aus den siebziger Jahren. Damals befreite eine Linkskoalition die Stadt per Gesetz von Dauersmog und ständigem Trinkwasseralarm. Seitdem begnügt sich Suzuki damit, die Dinge laufen und sich alle vier Jahre wiederwählen zu lassen.
Warum er damit Erfolg hat? „Tokio erinnert uns daran, daß das Rationale lediglich ein System unter vielen ist“, beobachtete einst der Strukturalist Roland Barthes und fügte seiner Tokioter Stadtbetrachtung hinzu: „Eine gelungene Improvisation kann nicht nur, wie man weiß, äußerst haltbar sein, sie kann auch die Bedürfnisse vieler Millionen Einwohner befriedigen, die im übrigen alle Perfektion der technischen Zivilisation gewohnt sind.“
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