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Träumen und Irren am Alex

■ Es ist Tag, und sie träumt im Fünf-Minuten-Takt/ Andere verlieren im Labyrinth der Schienenwege die Orientierung und finden den Weg vom Gestern zum Heute nicht mehr

Es ist Tag, und sie träumt. Eben noch hat sie hellwach in ihrem Büro gesessen, Akten durchgesehen, Formulare ausgefüllt und Anträge geprüft. Nun aber, nach Feierabend, läuft vor ihren braunen Augen ein Film ab, dessen Inhalt wir nicht zu erfragen wagen. Wir wissen auch nicht, wo sie gerade noch die Akten sortiert hat. Doch wo sie träumt, das wissen wir: in der U-Bahn. Alle Berliner träumen in der U-Bahn, sofern es sich nicht um Zeitungsleser oder Bücherratten handelt. Denen wird die Reise nach irgendwo Wort für Wort vorgeschrieben. Wer aber in der U-Bahn sitzt und träumt, kommt an, wo er will. Manche sind schon zu Hause, bevor sie die U-Bahn verlassen haben, andere bevorzugen Reisen in die Vergangenheit, in den Grunewald am letzten Wochenende zum Beispiel. Wieder andere sind ganz woanders — am Strand, in den Bergen, im Bett. Manch einer nimmt den Menschen, der ihm träumend gegenübersitzt, einfach mit auf den Trip. Der erfährt in den seltensten Fällen, wohin er gerade entführt wird. Das Träumen in der U-Bahn stellt sich automatisch ein, wenn der Schaffner die Schienen freigibt und der Zug seinen Ruck macht. Ruckzuck ist man entrückt. Entzückend.

Die Fahrgäste fantasieren im Fünf-Minuten-Takt. Kommt der Zug zum Stehen, steigen sie kurz aus ihrem Traum aus, um zu überprüfen, ob sie aussteigen müssen. Manchmal versagt die innere Uhr; dann müssen sie ein oder zwei Stationen zurückfahren. Also los und aufgepaßt, zunächst zum Alexanderplatz, dem Ort, wo Träume verkauft werden und Rothaarige noch echte Abenteuer erleben können. Hier halten sich zwei Gruppen von Menschen auf. Die einen laufen mit schlafwandlerischer Sicherheit durch den unüberschaubaren Irrgarten von Fluren, Hallen, Rolltreppen und Sackgassen, als würden sie an einem unsichtbaren Faden gezogen. Diese Leute träumen selbst beim Gehen. Die anderen haben die Augen weit aufgerissen und tasten mit ängstlichen Blicken die Kachelwände in Türkis nach Hinweisschildern ab. Diese Leute haben sich verlaufen. Dann gibt es wieder welche, die sich träumend verlaufen und andere, die, nachdem sie sich verirrten, alpträumen. Letztere sind zu bedauern. Es handelt sich meistens um verzweifelte Touristen, die, aus Charlottenburg kommend, zum Prenzlauer Berg weiterreisen möchten. Zwischen S- und U-Bahn liegt aber eine beträchtliche Entfernung, die selbst von alteingesessenen Berlinern nur mit äußerster Konzentration problemlos bewältigt werden kann. Außerdem führen viele falsche Fährten in die Irre. Denn nahezu alle Schienenwege Berlins treffen sich am Alexanderplatz: Von hier aus geht es nach Hönow, Pankow, Königs Wusterhausen, Oranienburg, Tempelhof, Wedding, Wannsee und Schönefeld und von da aus in die ganze Welt. Der Alexanderplatz liegt, global gesehen, ziemlich zentral. Und so irren Besucher solange durchs Labyrinth, bis sie völlig die Orientierung verloren haben.

Schauen wir einmal auf irgendeinen der vielen Touristen, der aus einem Seiteneingang des Bahnhofs ausgespuckt wird. Er wollte zum Prenzelberg, nun steht er vor dem Kaufhaus Centrum. Er steht noch in der Bahnhofstür. Da steht er im Weg. Von denen, die wissen, wo's langgeht, wird er zur Seite geschoben und blickt sich schüchtern um. Der Geruch von gerösteter Bratwurst und fettigen Pommes Frites steigt ihm in die Nase. Er tastet instinktiv nach seinem Portemonnaie. Neugierig geworden, läßt er seinen Blick schweifen und bleibt an einer Menschenmenge hängen, die sich um einen Händler versammelt hat. Der ruft etwas. Seine Stimme bleibt immer in derselben, aufdringlichen Tonlage. Der Tourist nähert sich dem Geschehen. Der Mann, Anfang 50, verkauft Portemonnaies. Nicht irgendwelche Geldbörsen. Er verkauft die »Super 2000«.

Oh, er weiß, wovon die anderen träumen. »Die Welt ist in der Super 2000 zu Hause!« verkündet er. »Nappaleder. Das ist reine Natur. Da geht alles rein. Die Clubkarte. Die Eurocheckkarte. Der Führerschein. Der kleine Taschenrechner. Euer blauer Personalausweis. Nu' hol' ich das Kaninchen aus dem Hut: Keine fünfzig, keine 30, keine 21 Mark: 20 Mark. In Düsseldorf nehm' ich mehr. Düsseldorf, dusselig, Rüsseldüssel, hahaha.« Er ist ein Zauberer. Die Zuhörer greifen ins Portemonnaie, um ein Portemonnaie zu kaufen. Sie besitzen keine Clubkarten. Aber mit der Super 2000 träumt es sich leichter davon.

Der Tourist läuft weiter in Richtung Weltzeituhr. Die geht vor, am Alex ist noch keine Sommerzeit. Schon hat er eine Stunde gewonnen, setzt sich auf eine Bank und schaut zu: Hütchenspieler, Polizisten, Sonnenbrillenhändler, Obst- und Schmuckverkäufer, Zeitungsjungs, Blumenverkäufer. Angestellte, Arbeitslose, Kurzarbeiter, Kriegsgewinnler. Bundfaltenhosen, rote Nylons, Stone-washed Jeans, grüne Shorts, schwarze Minis. Es lächelt, grübelt und grummelt; es flaniert, flieht und flitzt. Ein Lümmel torkelt lallend am Touristen vorbei. Zwei junge Leute wenden sich wegen eines Diebstahls an die Polizei. Ein Pärchen knutscht sich auf Wiedersehen. Zeit zu gehen.

Der Tourist, über den wir sonst nichts wissen, verläuft sich nun zum Bahnsteig. Dort wacht er auf und verschwindet für immer und ewig aus unserem Blickfeld. Wir hingegen setzen uns in die S-Bahn Richtung Charlottenburg. Am Bahnhof Friedrichstraße steigen wir aus und verlassen das Gebäude zur Rechten. Dort steht noch immer der sogenannte Tränenpalast. Was wurde hier früher in der Ausreiseschlange geträumt! Von Befreiungstaten, Fluchtversuchen, großer Liebe, der die Mauer nichts anhaben könne. Nu ist die Mauer weg und damit auch die Liebe perdu.

Was wurde gezittert! Vor Grenzsoldaten, Stasi-Schurken oder gierigen Verwandten. Doch heute ist das alles vorbei. Die Schlange ist verschwunden, der Eingang zum Tränenpalast mit Wellblechpappe versiegelt. Kein Königskind schluchzt mehr beim Abschied, kein Grenzer bittet zur Leibesvisitation. Also verlaufen wir uns ein bißchen in den Hallen und Gängen des Bahnhofs und finden irgendwann den Weg vom Gestern zum Heute nicht mehr. Claus Christian Malzahn

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