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DERJAZZ-TIP ■ CASSANDRA WILSON
»Für mich ist HipHop auch Jazz, so wie Blues Jazz ist«, resümiert Cassandra Wilson. »Diese Stile haben unterschiedliche Namen, weil sie einen bestimmten Klang haben, aber sie sind alle miteinander verbunden, sind Bestandteile einer musikalischen Fortsetzung. Ich lebe in keiner Kategorie«, und es ist Zeit, daß der Jazz »wieder aus dem Museum und vom Elfenbeinturm kommt, wieder lebt«.
Cassandra Wilson, Jahrgang 1955, talentiert, studiert, selbstbewußt, provokativ, versteht sich als »singende Musikerin«, will nicht nur als Sängerin vor einer Band stehen, sondern voll in ihre Musiker integriert sein, als Interpretin gleichermaßen wie als Komponistin. Beeinflußt von ihrem Vater, dann natürlich — wie könnte es anders sein — von Billie Holiday, Ella, Betty Carter und vor allem Abbey Lincoln, entwickelte sie ihren eigenen Stil, als sie sich in New York mit Steve Coleman und dem Musikerkollektiv von M-Base (Macro-Basic array of structured extemporations) zusammentat. Ein paar Platten mit Henry Threadgill's New Air, Steve Coleman's Five Elements, dann mit »Point Of View« und »Days Aweigh« zwei eigene Werke, die allerdings — außer in der Fachpresse — keine allzu große Resonanz brachten. Vielleicht lag es an ihren Eigenkompositionen: »Ich denke zuviel an den Klang der Worte, nicht so sehr an ihre Bedeutung«, gibt sie zu, »deswegen haben meine Zuhörer oft Probleme mit meinen Songs, weil sie nicht verstehen, was ich ausdrücken will«.
Erst mit »Blue Skies«, wo sie Standards interpretiert, kam der Durchbruch, die LP wurde von der Branchenzeitschrift »Billboard« zur Jazzplatte des Jahres 1989 gekürt — gewissermaßen doch ein Beleg dafür, daß Tradition eher gewürdigt wird als Innovation. Denn ursprünglich stand sie der Idee, ein komplettes Album mit Klassikern der Tin Pan Alley zu singen, sehr skeptisch gegenüber: »Das Material ist großartig wegen der Art, wie es gesungen wurde, nicht wegen des textlichen Inhalts. Wir leben nicht mehr in den 40er Jahren und (in Anspielung auf eines der damaligen Lieder) Pennies fallen nicht mehr vom Himmel. Ich kann nicht nur so etwas singen, während auf der Straße Leute aus Armut betteln.«
Auf ihrer neuesten Scheibe, ihrem fünften Solowerk für das deutsche Label JMT (Jazz Music Today) mit zeitgeistigem, aber weder attraktivem noch informativen Cover, bringt sie eigene Kompositionen, etwa das funkige »Iconic Memories« oder die Rückbesinnung auf die »Roots«, den Blues, in »Out Land« und »New African Blues«. Der Titelsong »She Who Weeps« stammt aus der Feder ihrer Mutter, ihr Vater spielt Bass. Eine 10minütige Improvisation über den Jazz- Klassiker »Body & Soul« ist ebenso enthalten wie Billy Strayhorns »Chelsea Bridge«, und mit »Angel« interpretiert sie ein weniger bekanntes Stück von Aretha Franklin.
Improvisation spielt eine zentrale Rolle in ihrer Musik — Cassandra Wilson verfremdet, zerscattet, seziert Standards, daß wahrscheinlich mancher der Komponisten die sprichwörtliche Grabumdrehung macht — aber auch in ihrem Alltag: »Ich lebe ständig in Spannung: ich bin eine Frau, ich bin schwarz, lebe als Musikerin im gesellschaftlichen Abseits.« Text & Foto: G.Hessig
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