: „'ne Art lockere Anmache“ mit dem Messer
Prozeßbeginn gegen Mathias Rust wegen versuchten Mordes/ Ein guter Rhetoriker mit Erinnerungslücken: Sie habe ihn einen „geilen Bock“ genannt, „dann wurde es dunkel“/ Psychiatrisches Gutachten attestiert „erhöhte Vulnerabilität“ ■ Von Lisa Schönemann
Hamburg (taz) — Nach den aufregenden Monaten, in denen er seine Lebensgeschichte teuer verkauft hatte, steht er allein da. „Der letzte Freund hat sich von mir abgewendet“, berichtete Mathias Rust gestern zu Verhandlungsbeginn. Der 23jährige muß sich vor dem Hamburger Landgericht wegen versuchten Mordes verantworten. Er soll im November 1989 in einer Klinik, in der er seinen Zivildienst ableistete, eine Schwesternschülerin mit zwei Messerstichen in den Bauch lebensgefährlich verletzt haben. Rust leugnet nicht. Packend erzählt er von seiner Landung auf dem Roten Platz in Moskau im Mai 1987. Zum Tatmoment schweigt er. Er könne sich nicht daran erinnern, zugestochen zu haben. „Ich sah plötzlich einen Blutfleck auf dem Boden.“
Ein psychiatrischer Gutachter hat dem pubertär wirkenden jungen Mann, der sich krampfhaft weltgewandt gibt, eine „erhöhte Vulnerabilität und ein brüchiges Selbstwertgefühl“ attestiert. Das ist das Mindeste. Als ob er aus dem Roman eines Dritten vorläse, beschreibt Rust den Lebensweg und nimmt dem Vorsitzenden Richter den Faden aus der Hand, an dem sich die Vernehmung entlang bewegen soll. Nach Gefühlen oder möglichen Suizidgedanken während der Moskauer Haft befragt, findet er kaum eine Antwort. Die Kontaktarmut und die jugendlichen Fliegerträume des bei Hamburg aufgewachsenen Angeklagten kommen ebensowenig zur Sprache wie seine ihn überschwenglich behütende Familie. Statt dessen lauschen die Kammer, die zitternde Nebenklägerin und eine Vielzahl schreibender, kaugummikauender Storyjäger den Erinnerungen des Kreml-Fliegers an die Reise von Helsinki nach Moskau. Als der Vorsitzende Richter verdeutlicht, es müsse jetzt zur Sache gehen, bittet Rust: „Noch zwei Minuten.“ Der 'Stern‘ hat die teuer eingekauften Exklusivrechte für die Berichterstattung über seine „Friedensmission“ nach dessen Einschätzung verschenkt. Die Kammer unterliegt um Haaresbreite den dramaturgisch eindrucksvollen Schilderungen des Fliegers. Geschützt und verdeckt durch die Jacke ihres Freundes versucht die heute 20 Jahre alte Krankenschwester, an den Fotografen vorbei in den Sitzungssaal der Großen Strafkammer zu gelangen. Es gibt keinen Schlupfwinkel für die Nebenklägerin, die erst nach einer Notoperation außer Lebensgefahr war. Ein Antrag, ihre Zeugenaussage in Abwesenheit des Angeklagten machen zu können, wird trotz der nachgewiesenen Angstzustände der jungen Frau abgelehnt. Mit leiser, kraftloser Stimme berichtet sie, Rust habe an der Tür des Umkleideraumes hantiert. Er habe versucht, sie zu küssen. „Dann war das Messer da, ohne daß ich etwas gesagt hatte. Ich hab' geschrien. Dann hat er zugestochen“, erinnert sie sich nach wiederholter Aufforderung.
„Es sollte 'ne Art lockere Anmache sein“, gibt Rust zu Protokoll. Er habe „keine Angst vor dem weiblichen Geschlecht gehabt“. Aber die Schwesternschülerin habe ihn seiner Erinnerung nach einen „geilen Bock“ genannt, der bei ihr niemals landen könne und dessen Moskau- Flug sie nur als den Gag eines Wichtigtuers ansehe. Rust will in jenem Moment eine Retrospektive aller bisher erlittenen Schmähungen vom „dummen Jungen“ bis zum „Kasper“ erlebt haben. Am kommenden Mittwoch werden die psychiatrischen Gutachter ihre Annäherungsversuche an die gebrochene Persönlichkeit Mathias Rusts preisgeben.
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