: Schwanengesang auf den Nürnberger Trichter
Das erste Filmfestival in Schwerin bot ein Sammelsurium von Flops, die nur um der Zukunft des Festivals willen zu Preisträgern gekürt wurden ■ Aus Schwerin Roland Rust
Steht der Welt Untergang bevor, so ziehe man sich getrost dorthin zurück, wo er noch weitere hundert Jahre auf sich warten lassen wird: nach Mecklenburg. Diese „historische“ Chance, die der Volksmund nährt, wird auch die Bundeszentrale für politische Bildung in Bonn gewittert haben, als sie nach einem neuen Austragungsort des von ihr seit Jahren auf der Nürnberger Filmschau veranstalteten Wettbewerbs jüngerer deutschsprachiger Spielfilme Ausschau hielt. Was schien näher zu liegen, als eines der neuen Bundesländer mit dem von etlichen Gremien notdürftig aufgepäppelten „deutschen Film“ zu beglücken, einem Ziehkind, von dem seit langem kein weiteres Lebenszeichen als selbstmitleidiges Wehgeschrei ertönt.
Kapitalbedürftige Partner für die eilends herbeigeführte Mesalliance gewann man im strukturschwachen hohen Norden der alten DDR. Der im Juni vorigen Jahres gegründete Mecklenburg-Vorpommern-Film e.V., ein Zusammenschluß von Mitarbeitern des bisherigen staatlichen Verleihs, von Kinos, Klubs und Filminteressierten, entging mit der Ausrichtung des „Filmfest Schwerin“ der drohenden Abwicklung. Die damit verbundene Anschubfinanzierung in Höhe von 150.000 Mark rieben die Bonner Festivalexporteure ihren arg gebeutelten Gastgebern dann auch bei jeder Gelegenheit unter die Nase.
Des vereinten Deutschlands jüngstes Festival ausgerechnet mit einem Nekrolog aus der Taufe zu heben, entbehrte nicht makabrer Logik. Zum x-ten Male lud man unter der eher euphemistischen Fragestellung „Geht der deutsche Film baden?“ zum kuscheligen Lamento über einen Sachverhalt, der längst außer Frage steht: Der deutsche Film — beziehungsweise dessen Überreste — ist schlicht am absaufen! Wer daran noch immer zweifelte, den belehrte der von der Bundeszentrale verantwortete Spielfilmwettbewerb eines schlechteren.
Was die neun, aus immerhin 50 Kandidaten erkorenen Beiträge unter der vom Reglement vorgezeichneten „gesellschaftspolitischen Relevanz“ auftischten, war eben jener laue Aufguß vorgestriger Rezepturen, der den Geschmack am deutschen Film vergällte. Daß obendrein keine einzige Defa-Produktion für wert erachtet wurde, gegen die verstaubte Kollektion von Ladenhütern vorausgegangener Festivals zu konkurrieren, machte das Maß künstlerischer Inkompetenz und Ignoranz voll. Gleichsam als Alibi ließ man unter dem (un)verschämten Etikett „noch DDR“ einzig einen Adlershofer TV-Serien-Krimi („Das Duell“, Regie: Thomas Jacob) starten.
Selbstredend versicherten sich die Ausrichter der hohen Akzeptanz unter den Filmschaffenden. Doch in diesen fatalen Sammelsurien von Flops und Fingerübungen mußte auch die wohlmeinendste Jury die Grenze des Zumutbaren überschritten sehen. Unmißverständlich sprach der Juryvorsitzende Hans Friedrich, Dozent an der Akademie für politische Bildung Tutzingen, vom Dilemma, überhaupt für Preisträger zu votieren. Keiner der Wettbewerbsbeiträge verfüge über jene ästhetische Kraft und das handwerkliche Niveau, um heute im Kino konkurrenzfähig zu sein. Daran können auch die Verleihförderpreise (fünf beziehungsweise drei Kinokopien), die ausdrücklich nur um der Zukunft des Festivals willen schließlich doch noch vergeben wurden, wenig ändern. Sie gingen an „Daedalus“ (Regie: Pepe Danquart), einen computeranimierten „Blade Runner“-Nachfolger mit erhobenem SF-Zeigefinger wider die Gentechnologie sowie an die bemühte Defa-Abschlußarbeit „Hinter verschlossenen Türen“ (Regie: Anka Schmid).
Nicht ganz so trostlos sah es im Kurzfilmwettbewerb aus, der von der Landeshauptstadt als einem der Mitveranstalter ausgeschrieben wurde. Nicht ohne Lokalpatriotismus verblieb der Preis (eine Anschubhilfe für einen neuen 20-Minuten-Film) demonstrativ bei einem der Initiatoren des Festivals. Heinz Brinkmanns Dok-Film „Vorwärts und zurück“ komplettiert Selbstaussagen von DDR-Bürgern, die nach Öffnung der Grenze erstmals gen Westen reisen, mit Zeugnissen aus 40 Jahren real-existentem Aufbaumythos zu einer zehnminütigen Besinnungspause am historischen Scheideweg.
Unter dem Motto „Kultur vital“ versprachen die Veranstalter ein viertägiges Spektakel, von Open- Air-Kino auf dem Pfaffenteich bis zu Multi-Media-Projekten. Zu vieles jedoch, darunter die mit Spannung erwartete Medienkollage „Herakles Höhle III“ des Ex-DDRlers Lutz Dammbeck, ließ man ohne Vorankündigung sang- und klanglos ins Wasser fallen. Anderes — wie die Straßeninszenierung „Jahrhundert- Spur“ des Münchner Verfremders Otto Dressler — geriet zum brav durchgeführten Zeremoniell „gemeinsamer Bekundung“ (laut Programmheft!) von Anti-Kriegs-Gesinnung.
Besonders lebhaft ging es trotz einiger Wimpel und Fähnchen in der frischgebackenen Landeshauptstadt nirgends zu. Zu wenig trafen die importierten Festivalmacher den Nerv der von Alltagssorgen bedrängten lokalen Filmfreunde. Zu groß waren unter dem gegebenen Zeitdruck die Startschwierigkeiten. Wer dennoch bis in das Festivalzentrum im Neustädtischen Palais vordrang, mußte sich bei abenteuerlichen Filmprojektionen, vollends als Provinz-Claqueur vorkommen. Beim Filmball waren die geladenen Branchenexperten dann wieder unter sich, denn welcher „Normalverbraucher“ mochte schon vierzig Märker für Musik & Filmeinsprengsel berappen. Bei der Fülle von Sonntagsreden, die „nebenbei“ ungeniert Sponsorenwerbung lancierten, geriet der Film in den Hintergrund. Daß das vom Vereinsvorsitzenden Dieter Schumann hochfahrend als „Fest der Künste“ angepriesene Unterfangen, das sich vorzugsweise des „Schicksals der einfachen Menschen“ annehme, nicht zum Debakel geriet, war nur dem reichlich strapazierten Good will aller Beteiligten zu danken, deren Solidarität mangelnde Solidität wettmachen mußte.
In die Sorge um den Abbau einer Filmkultur, der der vormals staatlich vollsubventionierte Boden entzogen ist, mischten sich immer wieder die Existenzängste der aus Festverträgen entlassenen Filmschaffenden. In Mecklenburg-Vorpommern mußte bereits die Hälfte aller Kinos schließen; die übrigen stehen sämtlich zum Verkauf. Da sich das Medieninteresse eindeutig auf den Berliner Raum und das Dreieck Leipzig-Dresden- Chemnitz konzentriert, wahrt gerade die Nordregion die Chance einer Filmlandschaft, die nicht ausschließlich von Marktinteressen beherrscht wird. Die verbindliche Verankerung einer Filmförderung auf Landesebene ist eine der Hauptforderungen des Mecklenburg-Vorpommern-Film e.V., der einstweilen die Aufgaben eines Filmbüros wahrnimmt. Bislang jedoch konnte noch nicht einmal der Wiederaufbau des ausgebrannten Studio-Kinos am Leninplatz (der jetzt Marienplatz heißt) zum Kommunalen Kino der Landeshauptstadt finanziell abgesichert werden. Niemand könnte diesen Forderungen stärkeren Nachdruck verleihen als ein interessiertes Publikum. Gerade hier jedoch muß Schwerin aktiver, vor allem aber attraktiver werden. Ein ermutigendes Zeichen einer sich wandelnden Zeit bot ein Ereignis abseits der Festivalroutine. Dem Debütfilm „Die Philosophie der Ameise“ des jungen Wieners Michael M. Satzinger gelang es wohl als einer der ersten westlichen Produktionen, die Mauern einer sowjetischen Garnison zu überwinden. Ein halbes Tausend in Schwerin stationierter Sowjetsoldaten verfolgte im Garnisonsklub die skurril-hintersinnige „Geschichte der letzten Menschen“. Ein noch vor kurzem undenkbares Politikum, dem eine Ausstrahlung über den truppeneigenen TV-Kanal folgen soll.
Den von der Bundeszentrale aus deren voriger Wirkungsstätte mitgeschleppte „Nürnberger Trichter“, der den Film vordergründig als moralische Anstalt begreift, sollte man schleunigst über Bord werfen: Mit vollen Segeln gegen den Wind, wie es im Katalog der „Schwerinale“ heißt.
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