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Zehn Monate Psychiatrie statt Mädchenhaus

■ Mißbrauchte Mädchen landen in Heimen und Psychiatrien / Der Fall Britta M. oder: Dr. Richard erinnert sich nicht

Der Fall ist so kraß, daß ihn der damals leitende Therapeut heute nicht mehr wahrhaben will: Am 21. März 1979 wurde die 15jährige Schülerin Britta M. in die Kinder- und Jugendpsychiatrie Bremen-Ost eingewiesen und erst nach zehn Monaten wieder entlassen. Die Psychiatrie hatte als Aufenthaltsort fungiert.

Der Hintergrund für die Einweisung von Britta M.: Der Vater hatte das Mädchen sexuell mißbraucht und versucht zu vergewaltigen. Das Mädchen war daraufhin „auffällig“ geworden. Ihr Lehrer: „Ihre mündlichen und schriftlichen Leistungen ließen nach, sie saß im Unterricht sehr teilnahmslos dar, sie machte einen blassen und leicht kränkelnden Eindruck.“ Britta M. schwänzte vier Tage die Schule. Das Jugendamt in Britta M.s Heimatstadt Cuxhaven verfügte mit Einverständnis der Stiefmutter, daß Britta M. in der Kinder- und Jugendpsychiatrie des Zentralkrankenhauses Bremen-Ost untergebracht wurde. Zehn Monate blieb das Mädchen in der Psychiatrie. Bis heute hat Britta M. „nicht begriffen, warum ich da drin war“. Eine Behandlung habe nicht stattgefunden. Die sexuelle Ausbeutung durch ihren Vater sei kein Thema für die ÄrztInnen gewesen.

Britta M. hatte auch danach keine Möglichkeit, die Gewalttat des Vaters einfühlsam aufzuarbeiten. Der Prozeß der Zerstörung ging weiter. Mit 18 wurde sie schwanger. Mit 25 tötete sie „ihr Liebstes“, ihren fünfjährigen Sohn.

Zwei JournalistInnen haben die Geschichte der Britta M. in einer Fernseh-Reportage nacherzählt, die Reportage wurde Montag abend in WDR 3 ausgestrahlt und wird morgen, Freitag, noch einmal wiederholt. In dem Fernsehbericht kommt auch Dr. Arnold Richard zu Wort. Er war zur Zeit der Einweisung von Britta M. Leiter des zuständigen therapeutischen Teams. Inzwischen ist er in Bremen-Ost aufgestiegen zum Leiter der Kinder- und Jugendpsychiatrie. Dr. Arnold Richard ist sich keiner Schuld bewußt. Vor laufender Kamera sagt er: „Wir denken nicht, daß wir damals etwas falsch gemacht haben. Ich wüßte nicht, warum ich einen sexuellen Mißbrauch außer Acht lassen würde.“

Der Vater von Britta M. blieb in all den Jahren unbehelligt und wurde auch nie von einem Amt in eine Psychiatrie verbannt.

Mehr als zwölf Jahre her ist der Tag, an dem Britta M. ins Zentralkrankenhaus mußte. „Auch heute kommt ein nicht unerheblicher Prozentsatz von mißbrauchten Mädchen in die Kinder- und Jugendpsychiatrie“, sagt gegenüber der taz Helga Loest, Sprecherin der Gesundheitssenatorin. Sie betont: „Heute wird sensibler damit umgegangen, als in den Jahren davor.“

Bis heute gibt es in Bremen keinen geschützten Ort für all die Mädchen, die es nicht mehr aushalten, mit dem sexuell ausbeutenden Vater und der fest zum Vater haltenden Mutter unter einem Dach zu leben. Auf einer Veranstaltung der grünen Fraktion letzte Woche beschrieb Katrin Radtke von „Schattenriss“, einer unabhängigen Bremer Beratungsstelle für mißbrauchte Frauen und Mädchen, die noch immer typischen Abschiebe-Stationen dieser Mädchen: „Notaufnahme — dann Psychiatrie - dann Heim“ oder: „Kurzzeitpflegestelle — und danach zurück nach Hause.“

Selbst nach Statistiken des Bundeskriminalamtes wird jedes vierte Mädchen sexuell ausgebeutet — fast alle im „familiären Nahbereich“. Die einhellige Forderung auf der grünen Veranstaltung im Bürgerhaus Weserterrassen: „Bremen braucht ein Mädchenhaus.“ Gemeint ist eine Zufluchtstelle, in der die Mädchen einige Wochen oder Monate bleiben, sich beruhigen, sich orientieren können — und gekoppelt, Mädchenwohngemeinschaften, in denen die Mädchen dauerhaft eine geschützte Bleibe haben. Die sozialdemokratische Frauenbeauftrage Ursula Kerstein riet den grünen Veranstalterinnen, das Mädchenhaus zum Wahlkampfthema zu machen. Ansonsten habe es im sparsamen Bremen keine Chance. Die Sozialwissenschaftlerin Sabine Klein-Schonnefeld (Uni Bremen) setzte ebenfalls auf das Mädchenhaus als Wahlkampfthema: „Ich bin sogar bereit, die CDU zu wählen, wenn dadurch das Mädchenhaus kommt.“ Die grüne Fraktion hat zwar in der Bürgerschaft für ein Mädchenhaus 950.000 Mark an Haushaltsmitteln beantragt, doch in den „13 grünen Punkten zur Bürgerschaftswahl“ taucht das Mädchenhaus nicht auf. Stattdessen die „erweiterten Befugnisse für Stadtteilbeiräte“ und die „grüne Tonne“. Barbara Debus

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