: Der »Bretterknaller« von Werder
■ Wie das 11.000-Seelen-Städtchen Werder an der Havel sein 112. Baumblütenfest feiert/ Modenschau und Tanz im Bierzelt
Werder. Das Obstbauernstädtchen Werder im Havelland schläft seinen alljährlichen Baumblütenrausch aus. Es schlummert inmitten der Blütenknospen, die längs der wogenden Wellen der Havel wippen — welkbraun und tot: Nachtfröste haben einen Großteil der kommenden Ernte vernichtet. Es schläft unruhig in weißen Dunstwolken, die über Werders Wiesen wallen — manchmal mischt sich ein Alptraum zwischen die Wölkchen: Zumeist vergeblich hatte man sich vom Absägen eines Drittels der zehntausend Hektar Obstbäume EG-Abholzprämien versprochen. Dennoch träumt das Obstbauernstädtchen seinen Traum vom kommenden Reichtum auf seiner fruchtbaren Erde, träumt von noch überschäumenderen Feiern als diesem »112. Baumblütenfest« seiner Geschichte — und auf den Bänken der Budenmeile schnarchen die alkoholisierten Arbeitslosen, die der zukunftslose Genossenschaftslandbau freigesetzt hat.
Es ist ein Volksfest in Werder, ein echtes. »Das Havelland blüht auf«, heißt sein Motto und treibt seine Besucher die Festmeile bis zum Marktplatz entlang. Nachtfröste und Kahlschläge von vierzig Jahren Realsozialismus und einem Jahr Frühkapitalismus haben sich tief in die Gesichter eingegraben. Junge blondierte Frauen, die im Minirock ängstlich durch die Welt staken, weißhäutige Männer mit verkniffenen Mündern und verfalteten Augen. Mienen, die seltsam formlos wirken. Zuviel Alkohol wahrscheinlich.
Auf dem Marktplatz, dort, wo sich Buden und Bierzelte besonders dicht zusammenballen, tobt an diesem Sonnabend das Leben. Es stampft die Diskomusik, es schieben sich die Leute, es jault die Polizeisirene. Gleich in dreifacher Ausfertigung kommen sie, die Menge abdrängend, angefahren: ein Polizei- und zwei Krankenwagen, und in sechsfacher Ausfertigung, zwei Grün- und vier Weißuniformierte, steigen sie aus und arbeiten sich zur trinkenden Dorfjugend vor.
Aber auch das große Bierzelt dahinter hat »etwas ganz Besonderes« zu bieten: eine Modenschau. Die Moderatorin mit sonnigem Gemüt und grüner Lodenjacke kündigt— »... und ich freue mich ganz besonders« — die von acht Damenschneidern aus Potsdam und Umgebung gefertigte neue Mode an — »jawoll, danke schön, da kommen sie schon, unsere Damen«. Die Models: Es schneidet ins Herz, wie sie, belockt, berockt, bebrillt über das Parkett tapsen — »und hier trägt Beate einen blumigen Sommerrock, sehr aufwendig gefertigt, sehen Sie die handgearbeiteten Spitzen« —, der Hüftschwung so schräg und das Lächeln so schüchtern.
Draußen vor der Tür bauen sich wie Don Quichotte und Sancho Pansa die beiden ehemaligen Vopos vor dem hölzernen Trinktisch der Jugendlichen auf. Vor einer Batterie leerer Flaschen mit werderschem Obstwein, dem »Bretterknaller«, hocken neun von ihnen, sie fallen von breitem Grinsen in Starrheit und wieder zurück. Der zehnte, ganz in Schwarz gekleidet, liegt schon auf dem Tisch: wie ein Ohnmächtiger, bäuchlings, das Gesicht in einem Wirrwarr verschwiemelter Locken vergraben.
»Der da«, zeigen die Polizisten auf den Scheintoten und winken die Sanitäter mit den weißen Plastikhandschuhen herbei. Doch da rappelt sich der Schwarze wieder hoch, auf bleichem Bizeps blitzt drohend eine Tätowierung auf: »Destroy«. Jetzt sitzt er kopfübergebeugt, die Haare hängen genauso wie die Zunge, die Verteidigungsrede gegenüber dem Polizeiangriff blubbert blasig in einzelnen Silben heraus. Die beiden Hertha-Frösche mit ihren gestreiften Fußballmützchen machen abwehrende Handbewegungen. Der glatzköpfige Skin starrt stumpfdeutsch ins Glas. Nur der Kumpel neben ihm, pickelig, aber Heavy metal, rückt seinen Munitionsgürtel zurecht und schleudert Widerworte gegen die Staatsmacht: »W-wo is'n hier die Randale, hä?«
Und im großen Zelt entfalten sich neue Blütenträume. Auftritt, ganz in Stretchschwarz und Kreischgrün, der örtliche Rock'n'Roll-Klub. Drei zu groß geratene Konfirmanten wirbeln drei schleifchentragende Konfirmantinnen durch die Luft, bis es Schweiß regnet. »Man glaubt es kaum, aber die Damen sind allesamt schon gestandene Muttis«, verrät lächelnd die Moderatorin mit dem sonnigen Gemüt.
Da draußen schaut sich die Staatsautorität gegenseitig in die Augen, zuckt mit den Schultern und zieht von dannen. Der Schwarze legt sich wieder auf den Tisch schlafen, und sein Kumpel mit den Patronen um die Djangohüften geht sich rächen: »Bullenpisser, ey, blöde«. Mit dem Zeigefinger versucht er, die Umstehenden aufzuspießen: »Das warst du, ey, das warst du, du hast se jeholt.« Und dann nimmt er wieder einen Schluck aus der Pulle und läßt auf der Holzbank den Kopf hängen. Gespenstisch ruhig ist es zwischen den zehn— niemand, der redet, keiner, der unterhält.
Drin im Zelt blühen die Blüten der neuen Zeit. »Beachtlich« findet die Moderatorin das neue Programm der hiesigen vierköpfigen Volkstanzgruppe. Beachtlich vor allem, wie schnell sie umgelernt hat, von deutsch auf englisch, von russisch auf amerikanisch, vom Dirndl auf Stretchmini und Nappalederanzug. »Oh, let's go, drei Mädels und ein Beau, sie swingen nun den Po, disco, disco, disco«.
Potsdam. Während des Blütenfestes in Werder kam es am Sonnabend gegen 21 Uhr zwischen zwei jungen Männern zu einer Auseinandersetzung. Dabei zog der 17jährige Marko N. ein Messer und stach es dem 21jährigen Silvio K. in den linken Brustbereich. Der Geschädigte befindet sich nach einer Operation im Josefskrankenhaus Potsdam außer Lebensgefahr. Der Täter wurde in Polizeigewahrsam genommen. Ute Scheub
Das Baumblütenfest in Werder dauert noch bis zum 5. Mai. Angeboten werden neben Budenzauber und Tanzmusik im Bierzelt unter anderem auch Kutschenreisen durch die Blütenpracht und Hubschrauberflüge über das romantisch zwischen den Wassern gelegene Werder, fünf Minuten für 40 DM. Da der Obstwein hier schon immer reichlich geflossen ist und sich das 11.000-Seelen- Städtchen vor allem zum Wochenende hin mit bis zu 40.000 Besuchern füllt, werden Fahrten mit öffentlichen Verkehrsmitteln angeboten: per Dampfer und Bus ab Potsdam oder per Sonderzug ab Berlin.
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