: Drei Viertel der Berliner wählten links
■ Vor einem Jahr fanden in Ost-Berlin die ersten freien Kommunalwahlen statt — ein halbes Jahr übten die Stadtverordneten Demokratie
Berlin. Jetzt gehe die Arbeit erst richtig los, bedauerte die Präsidentin auf der letzten Sitzung der ersten frei gewählten Stadtverordnetenversammlung von Ost-Berlin Ende November letzten Jahres. Nach einem knappen halben Jahr, so die Sozialdemokratin Christine Bergmann, heute Bürgermeisterin und Senatorin für Arbeit und Frauen, weiter, hätten die Stadtverordneten bewiesen, daß sie ihre Lektion in Sachen Parlamentarismus gelernt haben. Ende Mai 1990 wurde die damals 50jährige Apothekerin auf der konstituierenden Sitzung der Stadtverordnetenversammlung zu deren Vorsteherin gewählt.
Heute vor einem Jahr, am 6. Mai 1990, fanden in jenem längst untergegangenen Staat DDR die ersten demokratischen Kommunalwahlen statt — nach der Ereignisüberflutung durch die deutsche Einheit wird sich heute kaum jemand erinnern. Es war im vergangenen Jahr die zweite von insgesamt vier Wahlen für die Ostberliner, und die bereits eingesetzte Wahlmüdigkeit machte die Politiker ratlos. Ging es doch nun nach der Volkskammerwahl darum, auf kommunaler Ebene — also vor der eigenen Haustür — frei gewählte Volksvertreter zu installieren. In Ost-Berlin gab es in den 44 Jahren der Spaltung zwar immer eine Stadtverordnetenversammlung und einen Magistrat, von demokratischer Kommunalpolitik waren sie jedoch meilenweit entfernt. Im zentralistisch regierten Arbeiter- und Bauernstaat waren die Oberbürgermeister kaum mehr als Marionetten.
In Berlin, heute als Stadtstaat geeint, begann mit den Wahlen eine Zeit institutioneller Verwirrung, die mit der deutschen Einheit am 3. Oktober noch längst kein Ende fand. Gewählt wurden am 6. Mai sowohl eine Art zweites Landesparlament als auch die Bezirksparlamente. Ost- Berlin wählte im Vergleich zu den anderen Regionen der DDR absolut untypisch: Drei Viertel der Wähler entschieden sich für die Linksparteien SPD (34 Prozent), PDS (30 Prozent) sowie Bündnis 90 und Grüne (zusammen über 11 Prozent), die CDU blieb mit etwas über 18 Prozent weit abgeschlagen. Der bis dahin weitgehend unbekannte Rosenzüchter Tino-Antoni Schwierzina wurde Wahlsieger. Die Sozialdemokraten hatten ihr Wahlziel jedoch doppelt verfehlt: Weder reichte es zu der apostrophierten Alleinregierung noch zu einem rot-grünen Bündnis nach Westberliner Vorbild.
Noch in der Wahlnacht begannen die üblichen Rechenspiele: Um einen Minderheitsmagistrat mit den Bürgerbewegungen einzugehen, fehlte den Sozialdemokraten der Mut. Die Bürgerbewegungen ihrerseits wollten nicht neben der alten Blockflöte CDU auf der Regierungsbank Platz nehmen — Schwierzina favorisierte bald ein schwarz-rot-grünes Bündnis. Die SPD ging schließlich fast zum Nulltarif eine große Koalition ein.
Die größte Leistung der Stadtverordnetenversammlung war die Verabschiedung einer eigenen Verfassung, die die Gedanken des Umbruchs in der DDR in Verfassungsrang erhob. Kommunales Ausländerwahlrecht, Mitspracherechte für Bürgerbewegungen und eine Fristenregelung beim Schwangerschaftsabbruch waren moderne Errungenschaften, die von allen Fraktionen unterstützt wurden. Viel geblieben ist von der Verfassung nicht. Mit der Einheit wurde die Westberliner Verfassung auf ganz Berlin erstreckt — mit wenigen Änderungen. Von runden Tischen will die SPD heute nichts mehr wissen. Lange vor der Einheit zeigte sich der Übergangscharakter sämtlicher Institutionen, die man im Mai gewählt hatte; nur die Bezirksparlamente bleiben bis Juni 1992 die gleichen.
Die Vereinnahmungsversuche aus dem Schöneberger Rathaus begannen rasch. »Berlin spricht wieder mit einer Stimme«, verkündete der Ex-Regierende Walter Momper (SPD) unermüdlich, seitdem Magistrat und Senat regelmäßig gemeinsam tagten. Die taz-Kreation »Schwierzomper«, alsbald von allen Medien übernommen, beschrieb die wahren Machtverhältnisse. Auch der »Magisenat« ist der seltsamen Übergangszeit zu verdanken, in der in Berlin zwei Regierungen mit theoretisch ähnlichen, praktisch aber höchst unterschiedlichen Rechten im Amt waren. Schon wenige Wochen nach der Wahl versuchte der Senat, den Amtsbereich dreier SenatorInnen auf die ganze Stadt auszudehnen— ein vermeintlich genialer Schachzug des sogenannten Küchenkabinetts, der im Osten fast zum Koalitionsbruch führte und am eisernen Widerstand von vier Fraktionen scheiterte. Immerhin waren die regierenden Genossen in West-Berlin sensibel genug, die Ostberliner Verfassungsorgane nicht gleich am 3. Oktober nach Hause zu schicken, sondern sie bis zur Bildung eines neuen Senats im Amt zu lassen.
»Es war trotz allem eine schöne Zeit«, resümiert Christine Bergmann die oft chaotischen Sitzungen der Stadtverordnetenversammlung, die auch heute als Chefin einer besonders heiklen Verwaltung gestreßt ist. Das Bedauern über das, was an Positivem untergegangen ist, belächeln die Westler heute überlegen. Elemente der ehemaligen Ostberliner Verfassung aufzunehmen — eine Verfassungsreform, wie sie die Koalition vereinbart hat —, damit haben es die heutigen Partner CDU und SPD nicht eilig. Kordula Doerfler
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