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Neulich...

■ ...unter Klettergärtnern: Von Generationen, Klüften und Querverschneidungen: Das Märklin-Modell der Tragödie

Wenn balde die großen Berge einstürzen, haben wir immer noch unsere Klettergärten, eine Art Schrebergebirge. Kennen Sie nahe Kassel den Scharfenstein? Ein rührend geringfügiger Basaltklops. Gut doppelhausgroß, aber Modellschluchten inklusive und Kamine, putzige Märklin-Türmchen und sturzglatte Steilwände; und kein Zinken umsonst. Die Spezialliteratur berichtet von siebzig Kletterrouten hinauf und rundum. Schwer glaublich! Alles hat Platz drin. Selbst die großen Menschheitsdramen. Lesen Sie, wie es wirklich war, neulich im Kletterkurs.

Ich jetzt also auch. Geschlottert und gekrabbelt, himmelan und höllab. Fixseile gelegt und Sackstich-Schlingen! Aufgeknüpft und abgeseilt und flinke kleine Stürze gefangen in Prusik-Schlingen. Die andern in der Gruppe hatten noch mehr Schiß. Bis auf einen, ein dünnes, leichtlebiges Bürschchen, kaum neun, mit hurtigen Gamsbockbeinen. Hätten Sie sehen sollen: fliegt dahin über unsre Affenfelsen, das Bürschchen, und zwei wonnestolze Elterngesichter bescheinen seine Wege.

Es wittert und walkt aber auch große Sorge in den Elterngesichtern, alles zugleich. Unser Böcklein! Aber wenn es herunterfällt! Manchmal pfeift der Kursleiter, weil höher als einen Meter ist noch nicht gestattet. Fällt er tiefer und geht entzwei, kommt keine Versicherung mehr auf für den Schaden am Sohn.

Der aber ist schon wieder unterwegs. David! muß scharf der Vater rufen. Wag es! hat David gehört und tappt überm Kopf nach Halt. Die Eltern schauen einander an. Soll man ihn anbinden, den Sohn? Will man ihn ferner strahlend gernhaben oder am Hals? Er muß ja doch ins Leben hinaus. Dieses kennen sie und all seine Schluchten! Tief drunten liegen in Haufen die Abgestürzten. Eine Frage der Ertüchtigung.

Der Sohn unterdessen kommt gut voran und hinauf. Ein paar Felswarzen genügen ihm als Baugrund für seine Karriere über die Westwandverschneidung. Jetzt hält ihn nichts mehr. Die Eltern trollen sich und üben wieder. Dreipunkttechnik, Tritt suchen, Klemmkeile installieren. Halbmeterhoch. Plumps, fällt der Vater auf den Boden. Der Arm ist leicht beschädigt. Der Sohn ist schon ganz woanders. Aber gleich springt er herbei und betrachtet die Mutter, wie sie sich abseilt, zwanzig Meter nach unten. Immerzu muß sie hinabblicken, die Mutter. Tief unten schaukelt sacht der Planet. Da erbleicht die Mutter und sinkt in den Gurt und stochert mit Zappelbeinen in die Wand. Der Junge bemißt ein knappes Lächeln, fort ist er.

Es dauert, es dauert, bis die Griffe sitzen und der Felsen nicht mehr wackelt und alle die Knoten auswendig können. Voller Gefahren ist das Gebirge und die Fortbildung unerläßlich. Gegen Abend kommt doch noch einmal die Sonne heraus. Wo ist aber jetzt der Sohn? Da oben jubelt er, auf einem spitzen Gipfel. Unten die Alten sitzen zerschmettert. Manfred Dworschak

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