piwik no script img

ESSAYLiberalismus — sonst gar nichts?

■ Die Grenzen der gesellschaftsstiftenden Kraft des Liberalismus

Der Zusammenbruch der ost- und mitteleuropäischen Despotien mitsamt ihrer marxistischen Herrschaftsideologie hat viele Intellektuelle in ein Dilemma gestürzt, das derzeit theoretisch nicht lösbar scheint.

Der schonungslose Blick auf die verheerenden Folgen, die jede Form geplanter Ökonomien mit sich gebracht hat, verweist zwingend auf liberale Verhältnisse und eine liberalistische Gesellschaftstheorie. In Ungarn z.B. schlugen sich viele jüngere liberale Intellektuelle nicht nur auf die Seite eines kompromißlosen Eintretens für Bürger- und Menschenrechte, sondern traten vehement für ein manchesterkapitalistisches Wirtschaften im Stile von Margaret Thatcher ein. Da aber die Menschen — sei's aus einer vagen Erinnerung an marxistische Einsichten, sei's aus einem vorurteilsfreien Blick auf Thatchers Großbritannien oder die USA— wissen, daß ein losgelassener Liberalismus nicht nur Ungerechtigkeit und Armut, sondern auch den Zerfall herkömmlicher sozialer Bindungen nach sich zieht, hängen sie rechten bis konservativen Theorien und Ideologien, Nationalismen aller Art an. Auf diesen Umstand machen sich andere ost- und mitteleuropäische Intellektuelle einen anderen Reim. In Polen etwa spaltete sich die intellektuelle Anhängerschaft von Solidarność in eine radikalliberale Gruppierung, die in dem katholischen Walesa die Wurzel allen Übels sah, während andere so etwas wie das Konzept einer nationalzivilistischen Ideologie vertraten, einer Lehre, die die bindenden Kräfte der Nation mit den Freizügigkeiten des liberalen Verfassungsstaates verbinden soll.

Als Reaktion auf derlei Angebote beharren dann Dritte auf einer Form von heroischem Realismus und tragischem Liberalismus, einer Haltung also, die die Folgen einer tiefgreifenden Liberalisierung kennt, die Verluste an Geborgenheit, Sicherheit und Solidarität notiert, den Menschen aber dennoch glaubt anraten zu müssen durchzuhalten. Die Fröste der Moderne, die Öde der entzauberten Welt, die Einsamkeit einer auf sich selbst gestellten Individualität — all dies sei der Preis der Freiheit, der eben, trauernd auch, zu entrichten sei.

Die Bedeutung der Demokratiedebatte in Osteuropa

Die Debatte der ost- und mitteleuropäischen Intellektuellen geht nicht nur sie an, sondern trifft in unheimlicher Präzision die Fragen all jener, die der Auffassung sind, daß weder Liberalismus noch Nationalismus das letzte Wort behalten dürfen, nachdem die Utopie einer ganz anderen Gesellschaft mit deren Zerrbild im realen Sozialismus diskreditiert ist.

Im Westen, vor allem in den USA, suchen politische Philosophie und Theorie der Politik seit geraumer Zeit neue Antworten auf die Gebrechen des Liberalismus, dessen marxistische Kritik trotz des Niedergangs des realen Sozialismus nach wie vor unwiderlegt ist. Wie ist diesen Gebrechen zu wehren, ohne erneut dem unmenschlichen Planbarkeitswahn des Leninismus zu verfallen? Läßt sich die gesellschaftliche Solidarität auch dann noch denken, wenn man den individuierenden Funktionen der Marktwirtschaft im Bereich der Ökonomie ihr unbestrittenes Recht als bestes Güterzuteilungssystem überläßt? Michael Walzer, Charles Taylor, Seyla Benhabib, Alasdayr McIntyre, Martha Nussbaum und last not least Richard Rorty, die sich diesen Fragen stellen, stimmen bei allen sonstigen Differenzen in mindestens drei Punkten überein:

—daß die Vorstellung eines freien und autonomen Akteurs, wie es der Liberalismus postuliert, selbst nur eine — inzwischen obsolete — historisch gewordene Meinung sei;

—daß sich eine gehaltvolle politische Theorie nicht nur an Prinzipien der Gerechtigkeit und der abstrakten Freiheit, sondern auch an Bildern und Geschichten einer kollektiven guten Lebens zu orientieren habe;

—daß eine Gesellschaftskritik aus dem Nirgendwo der Objektivität oder des radikalen Negativismus ein Unding und Kritik daher nur als solidarische Teilhabe auf dem Grund gemeinsam geteilter Grundüberzeugungen einer Gesellschaft möglich sei.

Die kommunitaristische Kritik am Liberalismus

Der praktische Horizont dieser Überlegungen beansprucht daher einen gehaltvollen Begriff von „Gemeinschaft“, in deren Solidarität, Verkehrsformen und Traditionen sich Individuen überhaupt erst zu autonomen und in sinnhaften Beziehungen mit anderen stehenden Menschen entwickeln können. Diesem Horizont einer an Aristoteles' „Polis“ orientierten Gemeinschaft ist denn auch das Etikett dieser philosophischen Richtung entnommen: „Kommunitarismus“!

Der Kommunitarismus kritisiert an den linksliberalen Theorien der Gesellschaft und Gerechtigkeit, daß sie weder Antworten darauf hat, wie eine derartige liberale Gesellschaft in ihrem Innersten zusammengehalten werden kann, noch wie der Umstand, daß jedenfalls bestimmte liberale Gesellschaftsformen tatsächlich zusammenhalten, theoretisch erklärt werden kann.

Demgegenüber verzichtet der Kommunitarismus auf das Entwerfen und Konstruieren zukünftiger Gesellschaftszustände und versucht statt dessen, an jenen Traditionen anzuschließen, in denen wir bereits stehen und über deren Bestände wir schon verfügen. Diese Traditionen repräsentieren stets die konkreten Gehalte bestehender Lebensformen: von Familien, Freundschaften, Glaubensgemeinschaften, Verbänden, ja dem ganzen Ensemble bereits bestehender Lebensformen im Rahmen eines durch Menschenrechte gekennzeichneten liberalen Gesellschaftssystems. Programmatisch zielt dieses Anschließen an bestehende Lebensformen auf die Stärkung jener Lebensformen, die zwischen dem einzelnen Individuum und den abstrakten Prinzipien und Gesetzen des gesellschaftlichen Reproduktionszusammenhanges stehen.

Zivilgesellschaft und liberale Demokratie

Mit diesen Überlegungen gewinnt zudem der in den letzten Jahren über Gebühr strapazierte Begriff der „Zivilgesellschaft“, der kaum mehr bezeichnet als eine liberal und marktwirtschaftlich gesteuerte Gesellschaft mit einer funktionierenden Öffentlichkeit, neues Gewicht. Eine „Zivilgesellschaft“, die nur eine Ansammlung atomisiert aufeinander bezogener, über Öffentlichkeit und Kritik miteinander kommunizierender einzelner wäre, verdient keinen anderen Titel als den eines „Not- und Verstandesstaates“ (Hegel). Die zivile Gesellschaft, die sich jedoch auf dem Hintergrund der Theorie des Kommunitarismus abzeichnet, ist eine Gesellschaft, in der Öffentlichkeit und Kritik nicht abstrakt im Raume stehen, sondern an bestehende Gemeinschaften und Lebensformen gebunden sind, die sich aneinander abarbeiten.

Bei dieser Programmatik werden sich — zu Recht — all jenen die Haare sträuben, die aus der Geschichte der europäischen Kulturkritik gelernt haben, daß der Anschluß an Traditionen, Religionen und Gemeinschaften noch immer zur Unterwerfung des Individuums unter „Kollektivideologien“ geführt hat. Sie werden sich zudem daran erinnern, daß die Heilung der gesellschaftlichen Übel durch den Appell an Gemeinschaften, an das „Volk“ oder die „Nation“ noch stets ein Ideologem zur Bemäntelung ungerechter Verhältnisse war.

Geht es also bei dem neuen Beschwören des Begriffs „Gemeinschaft“ nicht einfach um das, was Claus Offe einmal zynisch als „Wiederaufforstung“ von durch den Kapitalismus zerstörter Sozietät bezeichnet hat — und wäre demgegenüber das dürre Beharren auf einem erneuerten Frühliberalismus nicht ehrlicher? So vermag nur zu denken, wer noch immer der Auffassung ist, daß eine Totalrevision des gegenwärtig herrschenden Gesellschaftssystems eine reale Möglichkeit, eine konkrete Hoffnung darstellt. Wer sich freilich vom Scheitern des realen Sozialismus und von der Einsicht in die „Nichtherstellbarkeit“ des Neuen hat überzeugen lassen, wer gleichwohl repressive und autoritäre Traditionen wie Nationalismus und Fundamentalismus ablehnt und gleichwohl den Schalmeien des Marktliberalismus mißtraut, wird nicht umhin können, über die Möglichkeit nichtrepressiver, solidarischer und gerecht aufeinander bezogener Lebensformen nachzudenken. Micha Brumlik

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen