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Die Unschuld des Geldes

■ Notizen über Geld und Charakter

Notizen über Geld und Charakter

Von MICHAEL BIENERT

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eld verdirbt den Charakter, behauptet der Volksmund. Aus den Märchen wissen wir, daß der Teufel immer ein Säckel Dukaten parat hat, wenn er auf Seelenfang geht. Die Bibel berichtet, daß der Verwalter der Jüngerkasse, ein gewisser Judas Ischarioth, Jesus für 30 Silberlinge an die Pharisäer verkaufte. Und beim jungen Marx lesen wir über das Geld, es sei das sich selbst entfremdete Wesen der Menschheit, die „allgemeine Verwechslung und Vertauschung aller Dinge, also die verkehrte Welt, die Verwechslung und Vertauschung aller natürlichen und menschlichen Qualitäten“.

Aber die in unserer westlichen Kultur überlieferte Mythologie des Geldes ist keineswegs eindimensional. Redensarten über das Geld gibt es zuhauf —1.420 listet das Deutsche Sprichwörter-Lexikon von 1867 auf—, und viele sprechen das Geld von Bösartigkeit frei. In den Märchen wird dem guten Helden nicht selten mit Geld geholfen. Wenn er dafür reif ist, wird er mit Reichtum und Überfluß entlohnt. Die christliche Ethik zählt Geiz zu den sieben Todsünden, doch die Caritas ist eine Kardinaltugend und der geöffnete Geldbeutel ein Symbol der Klugheit. Und Marx?

Sein frühes Verdikt paraphrasiert eine Haßtirade Timons von Athen, der Hauptfigur aus Shakespeares gleichnamigem Stück. Nachdem Timon seinen ganzen Reichtum an falsche Freunde verschleudert hat, dämonisiert er das Geld, um sein eigenes Verschulden nicht einsehen zu müssen. Marx hat später viel Mühe darauf verwandt, solche fetischistischen Vorstellungen von ökonomischen Tatsachen zu entzaubern. Ihr rätselhaftes Eigenleben entpuppt sich in der Kapitalanalyse als Produkt gesellschaftlicher Zusammenhänge. Den Namen für die Epoche verschärfter Ausbeutung leitet Marx zwar von einer Erscheinungsform des Geldes ab:Kapitalismus. Doch seine Analyse zeigt, daß jene Gesellschaftsformation nicht aus der Geldzirkulation geboren ist; vielmehr nimmt dies im kapitalistischen Zeitalter erst perverse Formen an.

Tatsächlich steht das Geld diesseits von Gut und Böse. Es ist moralisch so neutral wie ein Hammer oder ein Messer. Es verdirbt nicht den Charakter: es stellt ihn nur auf eine besonders harte Probe. Da es reine ökonomische Potenz ist, leistet es der menschlichen Schwäche und Destruktivität keinen Widerstand. Es potenziert die menschlichen Eigenschaften, im Guten wie im Bösen.

Auch der Märchenteufel lockt nicht mit dem Geld, weil es böse ist. Er verspricht die Erfüllung aller diesseitigen Wünsche. Der Inbegriff ihrer Erfüllbarkeit ist das Geld, gegen das sich alles eintauschen läßt. Diese Eigenschaft macht die Verführung mit Geld so leicht. Der Teufel muß dazu die Sehnsüchte und Schwächen seines Opfers nicht einmal kennen. Das beliebig mit Wünschen besetzbare Geld zieht sie magnetisch aus den Tiefen der Seele ans Licht.

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er mit dem Geld umgehen kann, dem erscheint es als nützliches Werkzeug. Andernfalls nimmt es dämonische Züge an, wird zur Projektionsfläche, zum Spiegel unbewältigter seelischer Verstrickungen. Wer zum Beispiel das Geld stolz betrachtet, hat wahrscheinlich einmal schlechte Erfahrungen damit gemacht. Er vermutet ein Übel im Geld; aber die Wurzel dieses Übels muß ihm solange verborgen bleiben, wie er sie im Geld sucht.

Für den Geldgierigen ist das Geld ein positiver Fetisch. Das hat ein mehr oder minder stark ausgeprägtes Suchtverhalten zur Folge. Der Geldgierige projiziert eine Qualität ins Geld hinein, die es nicht hat, sucht eine Befriedigung durch Geld, die es nicht geben kann. In der Hoffnung gefangen, auf diesem Weg vielleicht doch noch zur Befriedigung seiner tiefsten Sehnsucht zu kommen, akkumuliert er eine immer größere Menge.

In vormodernen Zeiten war die Geldgier ein charakterologisches Kuriosum. In modernen Gesellschaften wird sie zum Massenphänomen. Moderne Gesellschaften geben keine verbindliche Antwort mehr auf die Frage nach dem Sinn des Lebens. Das vermeintlich allmächtige Geld, eigentlich nur ein Mittel zur Erreichung von Zwecken, wird für viele zum Endzweck des Daseins. Aber die Jagd nach materiellen Werten kann sinnerfülltes, auf höhere Zwecke bezogenes Handeln nicht ersetzen. Das Suchtverhalten wird zum kollektiven Syndrom.

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it Geld sinnvoll umzugehen, sei es viel oder wenig, ist eine Kunst. Sie ist Teil der umfassenden Lebenskunst, die erforderlich ist, damit die vorhandenen menschlichen Potenzen nicht verkommen, mißbraucht werden oder sich gegen die Menschen kehren. Bei der Erlernung einer solchen Lebenskunst läßt uns die moderne Gesellschaft ziemlich allein. Sie erlaubt zwar niemandem das Autofahren ohne Führerschein. Aber wo es um elementare Potenzen und Mittel der Lebensentfaltung geht, etwa um Liebe oder Geld, überläßt sie alles dem freien Spiel der Kräfte.

Das soll individuelle Freiheit garantieren, produziert aber nur Verwirrung und Unglück. Der Grundstein dazu wird in der Kindheit gelegt. Vom Verhalten der nächsten Anverwandten lernt das Kind, wie Liebe und Geld funktionieren. Das Unvermögen der Erwachsenen, ihre Pathologie, lernt es dabei gleich mit. Die versuchen meistens, mangelnde Liebesfähigkeit durch Geldgeschenke auszugleichen, und so wird die Beziehung des Kindes zu beidem früh belastet, zur Liebe wie zum Geld. Das allgegenwärtige Suchtverhalten und die moderne Mythologie der Werbebilder tragen das ihrige zur Verwirrung der Gefühle bei.

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nders als in traditionellen Gesellschaften gibt es bei uns keinen verbindlichen Verhaltenskodex mehr, der, auf der Erfahrung von Generationen beruhend, den fruchtbaren Gebrauch der menschlichen Potenzen, Kulturtechniken und Naturkräfte lehrt. So steht jedes moderne Individuum vor der Aufgabe, sich selbständig aus den Pathologien seines Milieus herauszuarbeiten und seine eigene Lebenskunst zu erfinden.

Diese Situation ist durch die neuzeitliche Ausweitung des Geldverkehrs mit geschaffen worden. Historisch gesehen, hat er zur Auflösung traditioneller Formen der Vergesellschaftung wesentlich beigetragen. Je größere Bedeutung der Geldverkehr gewann, desto lockerer wurde die Bindung der einzelnen Person an den Boden, an ihre soziale Gruppe, an deren Tradition. Das moderne Individuum existiert statt dessen überwiegend in einem Netz von unpersönlichen, versachlichten, durch Geldinteressen gestifteten Beziehungen. Das bedeutet einen immensen Zuwachs an individueller Freiheit, weil der einzelne sich viel mehr als früher seinen Lebensraum, die Dinge und Menschen in seiner Umgebung wählen kann. So konnten bürgerliche Charaktere mit ihrem Anspruch auf persönlich definierte Freiheit und Selbstbestimmung nur auf geldwirtschaftlicher Grundlage entstehen.

Die Kehrseite dieser Freiheit sind die bekannten Formen von Ausbeutung und Entfremdung, die nur auf geldwirtschaftlicher Basis funktionieren — vom Konsumterror hierzulande bis zur Aussaugung der Dritten Welt. Insofern mag es naiv erscheinen, von der Unschuld des Geldes zu sprechen. Das Geld bindet uns an die kapitalistische Ökonomie, und die ist, im Weltmaßstab gesehen, eine blutige Angelegenheit.

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ährend es aber zum Beispiel sehr schwierig ist, mit einer modernen Bombe etwas Vernünftiges anzufangen, stellt uns das Geld für dergleichen keinerlei Hindernisse in den Weg. Es widersetzt sich nicht, wenn wir mit seiner Hilfe uns und anderen etwas Gutes tun wollen. Es ist eben charakterlos. Was uns hindert, sind unsere eigenen Charakterschwächen, sowie die Über- und Unterschätzung des Geldes.

Georg Simmel, der Soziologe und Metaphysiker des Geldes, hat einmal formuliert, das Geld sei „eben nur die Brücke zu definitiven Werten, und auf einer Brücke kann man nicht wohnen“. Wer das mißachtet, bezahlt mit dem Leben.

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