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Kiezidentitäten im Vergleich: Moabit und SO36

■ Ergebnisse eines TU-Forschungsprojekts über Jugendarbeitslosigkeit und lokale Identität/ In Kreuzberg »tobe das Leben«, Moabit sei »eher langweilig«/ Völlig unterschiedliches Verhalten der Jugendlichen trotz ähnlicher Sozialstruktur

Berlin. Kreuzberger Jugendliche machen kaputt, was sie kaputtmacht. Dagegen reagieren Jugendliche in Tiergarten auf die Arbeitslosigkeit oder die schlechten Wohnverhältnisse eher so, daß sie sich selbst kaputtmachen.

So etwa lautete die stark vereinfachte Ausgangsthese, als Birgit Spohr, Gertraud Aschermann, Katja Mruck und Günter Mey das TU-Forschungsinitiativprojekt »Jugendarbeitslosigkeit und lokale Identität« in Angriff nahmen. In den beiden untersuchten Gebieten Kreuzberg/SO36 und Tiergarten/Moabit leben etwa gleich viele Arbeitslose, die jeweilige Wohn- und Bevölkerungsstruktur ähnelt sich. Sowohl SO36 als auch Moabit bilden in bezug auf die sozialen Bedingungen sämtlicher Westberliner Bezirke häufig das Schlußlicht. In punkto Säuglingssterblichkeit wird Kreuzberg sogar von Moabit noch übertroffen. Dennoch werden beide Bezirke von der Öffentlichkeit völlig anders wahrgenommen. »Man hat immer den Eindruck, in Kreuzberg tobe das Leben und Moabit sei eher langweilig und uninteressant«, sagt Birgit Spohr.

Dies legt die Frage nahe, ob es tatsächlich einen Zusammenhang gibt zwischen individueller Befindlichkeit und dem Kiez, in dem man lebt. Mit anderen Worten: Gibt es so etwas wie eine lokale Identität? Um dies herauszufinden, machten die WissenschaftlerInnen in ihrer Vergleichsstudie Interviews mit 16- bis 25jährigen Jugendlichen aus beiden Bezirken. »Wichtig war uns dabei, eine möglichst große Bandbreite abzudecken, also StudentInnen wie HauptschulabgängerInnen, arbeitende wie erwerbslose Jugendliche zu erfassen«, erklärt Gertraud Aschermann. Gefragt wurde nach den Erfahrungen im Elternhaus, in der Schule und beim Übergang in das Berufsleben, wie die individuellen Zukunftsperspektiven aussehen und welche Erfahrungen die Jugendlichen mit Arbeit beziehungsweise Arbeitslosigkeit gemacht haben.

Besonders deutlich, so Gertraud Aschermann, wurde schon hier, unter welch unterschiedlichen Bedingungen die Jugendlichen in Kreuzberg und Moabit leben. Das Verhältnis von Jugendprojekten in Kreuzberg und Moabit liege bei etwa 4 zu 1. Mit Freizeitangeboten sehe es in Moabit noch relativ gut aus. Ausbildungs- und Beratungsmöglichkeiten seien jedoch weder in bezug auf ihre Anzahl noch auf ihre Vielfalt mit Kreuzberg vergleichbar. Auch mit den bezirklichen Institutionen machten die befragten Jugendlichen völlig unterschiedliche Erfahrungen. Während die Kreuzberger mit »ihrem« Sozialamt gut klarkämen, fühlten sich die Moabiter häufiger ungerecht behandelt.

Gravierende Unterschiede in der Umgangsweise der befragten Jugendlichen mit Arbeit und Arbeitslosigkeit fanden die WissenschaftlerInnen für die beiden Bezirke nicht. Sie konnten jedoch feststellen, daß die Diskussionen zum Thema Arbeitslosigkeit in den letzten Jahren nicht ausreichend gewesen seien. »Bislang gab es, grob vereinfacht, immer zwei Grundpositionen. Von konservativen PolitikerInnen wird häufig die These vertreten, daß Faulheit die Ursache der Arbeitslosigkeit sei. Als Reaktion darauf entwarfen vor allem linke ForscherInnen das Bild vom immens belasteten Arbeitslosen, dessen Situation ihn in eine tiefe psychische Krise stürzt.« Die Erfahrungen der TU-WissenschaftlerInnen zeigen jedoch, daß diese Einteilung zu einfach ist. Unbestritten erlebten viele Jugendliche ihre Arbeitslosigkeit als stark belastend. Es gebe jedoch auch eine beachtliche Zahl von Jugendlichen, die nicht unter ihrer Arbeitslosigkeit litten, »sondern sich bewußt dafür entschieden haben, sich bestimmten Arbeitsbedingungen nicht zu unterwerfen«. Andere wiederum litten zwar unter der mangelnden finanziellen Absicherung und dem Druck von seiten der Eltern, hätten jedoch keine Identitätsprobleme aufgrund ihrer Arbeitslosigkeit.

Einen Unterschied konnten die WissenschaftlerInnen zwischen Kreuzberger und Moabiter Jugendlichen feststellen: »Von den befragten Jugendlichen nahmen die Kreuzberger öffentliche Unterstützung viel selbstverständlicher in Anspruch, während die Moabiter hier eher Schwellenängste zeigen und Stigmatisierungseffekte befürchten«, berichtet Birgit Spohr. Erhebliche Unterschiede zeigten sich in der Untersuchung auch darin, wie die jeweiligen Bezirke als Wohnumfeld erlebt werden. »Die Kreuzberger Jugendlichen identifizieren sich wesentlich mehr mit ihrem Kiez«, meint Birgit Spohr, »unter anderem auch deshalb, weil Kreuzberg eher als jung und lebendig wahrgenommen wird, während Moabit als alt und trist gilt.«

Dabei, so das Statistische Landesamt, deckt sich die Altersstruktur beider Bezirke weitgehend. Durch sogenannte Felduntersuchungen vor Ort konnte dieser scheinbare Widerspruch geklärt werden: In Kreuzberg wird das Straßenbild nachmittags und abends an vielen zentralen Straßen sowie den für diesen Bezirk typischen, offen einsehbaren Plätzen vor allem von Jugendlichen geprägt. In der ersten Tageshälfte sind hier dagegen vor allem ältere Menschen unterwegs. Demgegenüber existiert in Moabit insbesondere ein zentraler Anziehungspunkt — die Turmstraße, die zugleich eine typische Einkaufsstraße ist: »Und da müßte dann schon ständig eine Gruppe Punks rauf- und runterlaufen, damit man denselben Eindruck hat wie in Kreuzberg.«

Darüber hinaus sei der Zusammenhalt der unterschiedlichen Gruppen in Moabit und Kreuzberg ein anderer. »SO36 wird stets als etwas Ganzes beschrieben, während in Moabit immer nur von einzelnen Straßenzügen, wie dem Stephan- oder dem Jagow-Kiez die Rede ist«, meint der Mitarbeiter des TU-Projekts Günter Mey. Auch anhand der in Moabit fehlenden Projekte zeige sich der Zusammenhang zwischen dem geringen Engagement und der wenigen Angebote. Während die MoabiterInnen ihre Freizeit lieber in anderen Bezirken verbrächten, blieben die Kreuzberger überwiegend im eigenen Kiez.

Als ausschlaggebender Faktor für die persönliche Entwicklung — auch im Hinblick auf die Umgehensweise mit Arbeit beziehungsweise Arbeitslosigkeit — erwies sich jedoch vor allem die Atmosphäre in der Familie. So spiele es eine große Rolle, ob die Eltern den Vorstellungen der Jugendlichen eher mit Leistungs- und Anpassungsdruck oder mit Interesse und Toleranz begegneten. Ebenfalls von besonderer Bedeutung für das persönliche Wohlbefinden sei die Einbindung in einen Freundes- und Bekanntenkreis mit ähnlichen Interessen und Orientierungen.

Ein Fragebogen, der von knapp 500 Jugendlichen und jungen Erwachsenen zwischen 17 und 30 Jahren beantwortet wurde, soll die Thesen der WissenschaftlerInnen nun erhärten. Die Ergebnisse werden voraussichtlich in den nächsten Monaten bekannt. Martina Habersetzer

Im Zuge ihrer Untersuchungen haben die vier WissenschaftlerInnen auch einen »Wegweiser Jugendeinrichtungen« erstellt. Er bietet einen Überblick über das bestehende Angebot an Ausbildungs-, Freizeit- und Beratungseinrichtungen vor allem in Tiergarten und Kreuzberg. InteressentInnen können diese sehr umfangreiche Informationsmappe kostenlos bekommen und zwar bis Ende Juni dienstags und donnerstags zwischen 12 und 16 Uhr in der Hardenbergstraße 4-5, Raum 442, Telefon: 31423043.

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