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Weit und breit kein Attentäter

Ein Minister wird beschützt  ■ Von Martin Groß

Januar 1991: Dr.Kolbe lebt gefährlich. Zwar ist im Grunde jeder Minister einer gewissen Gefahr ausgesetzt, aber als Mitglied einer Regierung ohne eigenen Personenschutz ist Herr Kolbe besonders bedroht. Denn bekanntlich hat man in den östlichen Bundesländern die alten Sicherheitskräfte entmachtet und neue bisher lediglich aus dem Westen ausgeliehen.

Auf Umwegen hatte mich die Mitteilung erreicht, ein gewisser Herr Schulz werde mich am Freitag morgen um sechs Uhr an der Litfaßsäule am Naumann-Platz abholen. Erkennungszeichen: ein schwarzer Opel. Natürlich konnte ich nicht davon ausgehen, daß dieser Mann tatsächlich „Schulz“ hieß. Er hatte mir ja auch ausrichten lassen, ich solle auf keinen Fall eine Kamera mitbringen.

Am Freitag, kurz vor sechs, stehe ich also an der vereinbarten Lifaßsäule und sehe die Straße nach Barnstädt hinunter. Natürlich könnte Herr Schulz auch aus jeder anderen Richtung kommen, aber man hält sich eben erst einmal an die Hauptstraße. Es ist dunkel und regnerisch. Dann, ganz unvermittelt, spricht mich, von der Seite kommend, ein ziemlich athletischer Mann an. Er scheint genau über mich Bescheid zu wissen, denn er sagt, „der Schulz wird gleich da sein. Der war noch nie zu spät.“ Einen Augenblick lang sieht er mich schweigend an, aber keineswegs aufmerksam oder gar mißbilligend. Da er sich nicht vorgestellt hat, ist es schwierig, ein Gespräch mit ihm zu beginnen. „Sie fahren also auch mit?“ frage ich schließlich. Er nickt mit seinem kurzgeschorenen, breiten Tigerschädel und fügt dann fast beiläufig hinzu, „aber es ist Ihnen doch klar, daß so etwas im Grunde genommen verboten ist. Absolut. Das muß unter uns bleiben.“ — „Natürlich.“ — „Mit dem Schulz sind Sie bitte in bißchen vorsichtig“, fährt der Mann fort, „der hat nämlich schon unter den alten Verhältnissen Personenschutz gemacht. Und darüber spricht er natürlich nicht gern.“ Der Mann mit dem Tigerschädel dagegen hat offenbar keine „Vergangenheit“. Er spricht uninteressiert, so schnoddrig und gleichzeitig so bestimmt, daß er nur aus dem Westen kommen kann.

Schulz sehe ich später dann nur von hinten. Als ich einsteige, hat er den Blick eisern geradeaus gerichtet, und dabei bleibt es. Von all den ausweichenden Gesichtern in diesem Land ist dieses bisher das hartnäckigste. Schulz ist vorerst nur ein Hinterkopf. Aber immerhin: Er behält beim Fahren die Nerven. Immer wieder schert er plötzlich aus, zieht sein Fahrzeug an der ganzen Wagenkolonne vorbei und drängt sich dann, während der Gegenverkehr schon auf uns zustürzt, wieder schroff in die Kolonne zurück. Er verläßt sich ganz auf das erschreckte Zurückzucken der anderen Fahrer. Den Mann, der mich an der Lifaßsäule angesprochen hat, irritiert das nicht. Ihn beschäftigt vielmehr ein Haus in Rosenau, das man ihm zum Kauf angeboten hat. Vielleicht fahren wir heute in einer Pause mal hinaus. Schulz, der seinen Begleiter „Matz“ nennt, ist damit einverstanden, „können wir machen“, sagt er, und Matz fragt weiter: „Fünfzigtausend, glaubst du, daß fünfzigtausend ein korrekter Preis sind?“ Schulz findet das offenbar in Ordnung, jedenfalls brummt er kurz. Matz ist allerdings weniger zufrieden: „Schön und gut“, sagt er, „aber dort gibt es nicht einmal ein Telefon! Wie soll man denn unter solchen Bedingungen arbeiten?“ Schulz scheint dies nicht als Frage aufzufassen. Sein Blick hat sich keine Sekunde vom vorausfahrenden Wagen gelöst, und er verstummt nun einfach in dieser Position.

Das Haus des Ministers Kolbe: Kein Einfamilienhaus mit Garten, noch nicht einmal ein Reihenhaus, statt dessen ein Neubaublock. Kolbe gehört zu den Politikern, deren Karriere erst vor ein paar Monaten begonnen hat. Zuvor war er einer dieser unbestimmten Leute: ein Ingenieur vielleicht oder ein ins Gartenbauamt abgeschobener, aufsässiger Lehrer. Jetzt ist er jedenfalls Minister. Schulz zeigt auf ein schmales Fenster mit einer Milchglasscheibe. „Das dürfte er wohl sein.“ Da steht der Minister nun im Badezimmer und kämmt sich die Haare.

Auch sein Fahrer wartet bereits. Er hat seinen Wagen quer über den Bürgersteig geparkt und vertritt sich die Füße. Noch immer ist es dunkel. Als im Treppenhaus das Licht angeht, eilen Schulz und Matz zum Hauseingang hinüber. Dort stehen sie dann beide, Schultern und Hände kampfbereit, und heraus tritt Dr.Kolbe: ein schmächtiger, älterer Mann, der offensichtlich noch immer ein wenig überrascht ist, daß man ihn tatsächlich jeden Morgen auf diese Weise erwartet. Jedenfalls sieht man ihn kurz den Kopf heben, oder eigentlich ist es nur sein Hut, der sich bewegt. Ja, Herr Kolbe gehört zu jenen Menschen, die noch einen Hut tragen. Er gibt den beiden schweigend und mit gesenktem Blick die Hand, begrüßt dann auch mich, ebenfalls ohne jeden Blickkontakt, geht schließlich zum Wagen hinüber, die Tür steht ja bereits offen, und setzt sich nach hinten. Später im Ministerium: Wir warten vor dem Beratungssaal; ein paar aus der Presse bekannte Politiker, dazwischen überall diese jungen, kräftigen Männer im Jackett. Als der Ministerpräsident hereinkommt, gelingt es ihm offenbar mühelos, im allgemeinen Gedränge der Personenschützer, Sekretäre und Politiker jeden einzelnen Minister zu erkennen und irgendwie persönlich zu begrüßen. Er scheint sich bereits daran gewöhnt zu haben, drei Viertel der Anwesenden zu übersehen. Wie erleichtert muß man sich fühlen, wenn diese Gewöhnung so weit vorangeschritten ist, daß man eines Tages selbst unter hundert Leuten nur den engsten Bekanntenkreis bemerkt. Die anderen sind ein rauschendes Meer, an dem man ins Gespräch vertieft spazierengeht. Dann verschwinden die Politiker im Beratungszimmer, nur noch die Bewacher stehen herum. Man ist sich einig, daß nicht alle hier zu warten brauchen. Zwei genügen. Die anderen können frühstücken gehen, wir auch. Und ich? Fällt den anderen denn auf, daß da ein Fremder mitkommt? „Ach was“, sagt Matz, „das geht niemand etwas an.“ Wir fahren also in die Polizeikaserne am Lessingplatz. Es ist nicht weit, die Berliner Straße hoch, über die Melchior- Brücke hinüber, schon ist man da, eine Schranke öffnet sich, ein Wachpolizist grüßt. Dann der weite Hof und einige Einsatzfahrzeuge. Wir steigen aus, eilen über den verregneten Hof, an Pfützen vorbei und an Haufen von nassem Laub. Man öffnet die Tür. Dann geht es die Treppen hinauf, oben ist die Kantine. Am Tresen versuche ich, der letzte in der Schlange zu bleiben, aber Matz dreht sich um und sagt leise: „Mach dir nichts daraus, die meisten stammen sowieso von der Stasi.“ Als ob mich das erleichtern würde. Inzwischen ist es Tag geworden. Weil der Raum völlig überhitzt ist, beginnen die Bewacher, einer nach dem anderen, ihr Jackett auszuziehen, und ich entdecke an den Revers überall dieselbe Anstecknadel — offenbar eine Art Erkennungszeichen. Über kurz oder lang werde ich also doch auffallen! Für einen Augenblick denke ich daran, auch mein Jackett auszuziehen und unauffällig zur Seite zu legen, aber noch rechtzeitig fällt mir ein, daß darunter ja keine Pistole zum Vorschein käme.

Matz erscheint mir plötzlich als ein Großmaul, der ein Risiko nicht abschätzen kann. Nun sitze ich zwischen diesen Männern, die schon von Berufs wegen jeden Fremden argwöhnisch im Auge behalten. Ich muß also stillhalten. Aber auch die Männer, die man offenbar von der Stasi übernommen hat, verhalten sich still. Sie sitzen nüchtern über ihr Frühstück gebeugt, und am ganzen Tisch gibt es nur zwei, die sich unterhalten: Matz und ein Mann, der offenbar auch aus dem Westen stammt. Sie sprechen dafür aber um so lauter: Wenn man nur eine vernünftige Wohnung hätte; das ist das eigentliche Problem — also nach Rosenau fahren, das dürfen wir nachher nicht vergessen. Ja, und dann zu Hause die Frauen. Wie lange hat man sie schon nicht mehr gesehen. „Weiß du denn überhaupt noch, wie deine Frau aussieht, wenn sie nackt ist?“ fragt Matz; und weil sein Kollege nur unwillig vor sich hin brummt, fährt er fort: „Ich meine ja nur... Falls du es nämlich nicht weißt, könnte ich dir ein paar Nacktfotos von ihr zeigen.“ Über einen solchen Witz lachen sogar die ehemaligen Stasi-Offiziere. Dann verkrampfen sie sich wieder und greifen fast gleichzeitig zu den Kaffeetassen.

Ab zehn Uhr haben Matz und Schulz Wache. Wir sitzen im Vorraum, von den Beratungen drinnen ist nichts zu hören, nicht einmal ein Gemurmel. Eine Stunde lang kommt niemand. Schulz raucht. Er hat sich aus Zeitungspapier einen Aschenbecher zurechtgefaltet und ihn auf den Fenstersims gestellt. „War das denn früher auch so langweilig?“ frage

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ich. Es dauert einige Augenblicke, bis Schulz hier in diesen Raum zurückgefunden hat und erklärt, daß er früher nur einfache Aufgaben auszuführen hatte. „Nichts Politisches, oder was man sich so vorstellt.“ Er sagt das so müde vor sich hin, daß ich hätte frisch ausgeschlafen sein müssen, um weiterzufragen. So aber lasse ich ihn in seine abgewandte Haltung zurückfallen. Erst lange später richtet er sich wieder aug, um „mal kurz raus zu gehen“.

Während sich noch die Schwingtüren zum Treppenhaus hin und her bewegen, sagt Matz amüsiert und doch fast flüsternd: „Der war natürlich auch bei der Stasi. Der tut bloß so.“ Dann steht auch er auf. „Zuerst dachte ich auch, im Osten, da muß es doch spannend sein“, sagt Matz. „Und vor der Stasi, da hab ich einen Mordsrespekt gehabt; Stasi, das ist doch ein Ding. Mit denen werde ich zusammenarbeiten, bin mal gespannt, was die so drauf haben, die konnten ja Dinger drehen, von denen man sonst nur träumt — ich meine, nicht, daß du das jetzt falsch verstehst, ich bin nicht für die Stasi, mit Sicherheit nicht, aber vor denen hatte man doch Respekt. Also die Stasi — das hat mich interessiert. Aber ich sage dir, das war vielleicht eine Enttäuschung! Mein Gott, was haben die für eine kümmerliche Ausrüstung — das sieht ja alles aus wie selbstgebastelt. Und jetzt tun sie alle so brav und schüchtern. Das gefährlichste, was die haben, ist doch ihr verbissenes Gesicht.

Matz dehnt kurz den Rücken und kommt zum Fenster herüber. „Aber die Russen! Du hast ja keine Vorstellung, was die alles auf den Markt bringen. Für hundert Mark kriegst du eine Makarov — und für fünfhundert gleich 'ne neue Kalaschnikow.“ Matz beginnt im Vorraum auf und ab zu gehen. Da haben sich also inzwischen Tausende mit Waffen versorgt: Drogenhändler, radikale Gruppen und Zuhälter, gegen die wird man eines Tages losgeschickt. Und von den Politikern ahnt ja keiner, was sich da zusammenbraut. Irgendwann wird es ganz böse knallen. Als Schulz zurückkommt, greift er wieder zur Zigarette und hört wortlos diesen schwarzen Prognosen zu. Unauffällig gehen sie sich aus dem Weg: Schulz hat sich wieder am Fenster aufgestellt, während Matz auf und ab geht und erklärt, nur noch ein äußerst scharfes Vorgehen könne die Katastrophe verhindern. Man kann doch nicht zulassen, daß die Drogenhändler mit Maschinengewehren herumlaufen! Hat er auch Angst vor einem Attentat? Nein, das hat er nicht, denn ein Attentat ist unwahrscheinlich. Und daß es im Ernstfall ausgerechnet ihn trifft, ist noch unwahrscheinlicher. Diese Angst hat er nie. Kein einziges Mal. Bei einem Attentat hast du sowieso keine Chance, entweder du bist tot oder du stehst machtlos herum. Was soll man denn machen, wenn es wirklich mal knallt? Soll ich aus dem Wagen springen und zwischen den Häusern und Autos herumballern? Also an ein Attentat glaubt Matz nicht.

Um 13 Uhr: die „Bürger-Stube“, in der es nach altem Fett riecht und nach zerkochtem Gemüse. Man wartet auf das Essen. Bereitwillig würde man sogar ziemlich lange warten, denn nach dem Essen geht das eigentliche Warten ja erst wieder los. Ich begreife allmählich, daß die Kunst einer solchen Aufgabe darin besteht, das Warten auf den Minister hinter einer Vielzahl kleiner Wartereien zu verbergen. So ist es ganz erträglich.

Matz und Schulz warten übrigens nicht nur auf das Essen und auf Herrn Kolbe; sie warten vor allem auf ein paar große Firmen. „Wenn die sich hier erst einmal niederlassen — eine Autofirma oder eine Computerfirma zum Beispiel —, die brauchen immer Schutzpersonal für ihre Manager, da haben wir gute Chancen, wir sind ein Team, das sich hier auskennt. Wir sind geschult. Da steigt man gleich bei siebentausend Brutto ein, jedenfalls bei Mercedes oder bei der IBM. Und wenn du gut bist, organisierst du später die gesamte Sicherheit im Betrieb. Aber bei der Polizei machst du ab vierzig nur noch Schreibarbeit. Auf eine Beförderung kannst du außerdem ewig warten.“ Und Schulz, würde er auch lieber zur IBM gehen? „Also im Prinzip schon“, erklärt er, ohne sein Gesicht mehr als notwendig zu bewegen, „im Prinzip würd ich mich schon nach was Besserem umsehen wollen, jetzt wo wir die Demokratie haben.“

Ob wir jetzt mal nach Rosenau rausfahren? Man kann sich das Haus ja immerhin mal ansehen. Und fünfzigtausend Mark, das ist eigentlich auch kein Geld. Aber man kann sich schon vorstellen, wie‘s dort aussieht. Zuerst einmal klemmt die Haustür, und die Tapete fällt bald von den Wänden. Eine Zentralheizung gibt es natürlich nicht. Und dann soll man auch noch alles bewundern. Nichts ist schlimmer, als Leute, die auf ihren Kram auch noch stolz sind. „Dabei ist doch alles vergammelt in diesem Land hier“, sagt Matz; Schulz hört kommentarlos zu, und es sieht nicht so aus, als ob ihn das Land von gestern noch interessieren würde. „Andererseits“, sagt Matz und greift nach den Zigaretten, „irgendein Haus braucht man ja auf die Dauer.“ Aber vielleicht ist es jetzt, um halb drei, zum Rausfahren schon fast zu spät. Der Berufsverkehr hat wohl schon begonnen. Heute abend wird es günstiger sein.

Um 16 Uhr sind wir wieder im Landtag. Aber Herr Kolbe läßt ausrichten: Es wird noch bis 18 Uhr dauern. Wieder warten wir vor einem Beratungssaal. Ein paar schlichte Holzbänke stehen neben dem Eingang, und hier sitzen wir nun — alle drei mit übereinandergeschlagenen Beinen. Im Foyer, wenige Meter entfernt, befindet sich eine Ausstellung; die Grundschulen der Stadt haben sich mit dem „Hunger in der Welt“ beschäftigt. Und was dabei entstand, sind Bilder, die so aussehen, als sei es für die hiesigen Schüler selbstverständlich, fremden, braunhäutigen Wesen großzügig mit Schüsseln voller Reis auszuhelfen.

Ab und zu geht tatsächlich jemand zwischen den Stelltafeln umher. Leise und ernst. Wie sehr man auf solche Erscheinungen hofft! Jedesmal sind dann wieder ein paar Minuten gewonnen. Es beginnt damit, daß man vom gegenüberliegenden Eingang her ein Paar Beine sich den Stelltafeln nähern sieht. Für eine Weile irren sie darunter hin und her. Und dann der glückliche Augenblick, wenn der Besucher in ganzer Größe vor einem steht. Jetzt ist er da! Aber nie gleicht er den Vorstellungen, die man sich zuvor, als man nur die Beine sah, von ihm gemacht hat.

„Wie wär‘s denn mit einer Runde Kaffee?“ fragt Matz, und Schulz begreift sofort, daß dies eine Aufforderung ist. Man hat sich aneinander gewöhnt. Er geht also in Richtung Kantine; aber Matz hat es sich anders überlegt: „Nee, nicht schon wieder Kaffee, bring mir ein Kännchen Schokolade mit und auch eine Serviette — falls die hier so was haben“, fügt er maulig hinzu. Schulz nickt, dreht sich wieder um und geht. Matz fährt sich durch das kurze Haar. Na, was hab ich dir gesagt? Das meiste ist Herumsitzen. Weiter passiert nichts. Und daß der Schulz ein unterhaltsamer Mensch ist, das kann man ja nun wirklich nicht behaupten. Wenn man was Vernünftiges zu tun hätte, wär er ja noch zu ertragen, aber so... Da kann man bloß hoffen, daß die IBM bald kommt — oder besser noch Mercedes.

Allmählich wird es dunkel. Seit einer halben stunde ist niemand gekommen — kein Besucher, keine Sekretärin. Vieleicht sind hinter den dicken Türen sogar die Politiker längst gegangen. Man möchte das Licht löschen und sich ausgestreckt auf eine dieser Holzbänke legen. Und wenn jetzt ein Attentäter hereingestürzt käme, ein Mann mit wildem Blick und gezogener Pistole, bereit, sein Leben zu verschleudern, ein zu allem entschlossener Mann, schnell und sicher, man müßte ihn wie eine Erlösung begrüßen, wie einen überwältigenden, wohlverdienten Sieg des Bösen.

Kurz vor sieben: Wir fahren zur Parteizentrale. In der Dunkelheit geht es durch die Außenbezirke. Immer noch leichter Regen. Weil die Parteizentrale schlechter abgeschirmt ist als das Rathaus oder der Landtag, übernehmen wir die Wache draußen auf dem Parkplatz. Da kann man wenigstens im Auto sitzen. Drinnen gibt es nur ein paar unbequeme Stühle. Der Parkplatz ist mit Autos völlig verstellt. Wir stehen halb in der Einfahrt. Matz sitzt im Dunkeln vor mir, ich sehe nichts von ihm, außer den Rand seiner Silhouette und die Glut der Zigarette, so oft er an ihr zieht. Es ist kalt geworden.

Die Scheiben beschlagen. wir schweigen. Was soll man noch sagen? Einige Lichter in der Nähe — Leute, die jetzt zu Hause sind, die ihr Abendessen auf den Tisch stellen oder den Fernseher anschalten. Auf den Straßen ist niemand mehr. Es beginnt stärker zu regnen. Außen an der Scheibe rinnen die Tropfen herunter. und manchmal, wenn Wind aufkommt, treiben sie quer über das Glas. Dann klopft jemand gegen die Scheibe, Schulz schreckt auf, öffnet das Fenster. Irgendwer will vom Parkplatz herunterfahren. Schulz startet den Motor, fährt ein Stück auf die Straße hinaus, läßt den anderen, der zum Dank die Scheinwerfer aufblendet, vorbeifahren und stößt dann wieder in die Einfahrt zurück. Er schaltet den Motor genau in dem Moment ab, als ein anderer Wagen auftaucht. „Das ist Böttcher“, sagt Schulz und startet noch einmal den Motor. Der Minister will nämlich direkt vor den Eingang gefahren werden. Aber immerhin: Mit Böttcher sind auch zwei Personenschützer gekommen. Solange sie hier stehen, könnte man eigentlich nach Rosenau hinausfahren. „Meinst du, um halb neun kann man bei den Leuten noch vorbeikommen?“ — „Ach, halb neune ist doch noch keine Zeit!“ sagt Schulz, aber Matz scheint eine gegenteilige Auskunft erwartet — oder erhofft — zu haben. „Weißt du, wenn du ein Haus kaufst, dann mußt du auch drin wohnen wollen“, sagt er. Aber hier muß man ja mit allem von vorne anfangen. Wenn man sich wenigstens vorstellen könnte, endgültig hier im Osten zu bleiben. Matz lehnt sich noch weiter zurück und sagt:„Einen vernünftigen Wagen müßte man haben, wenigstens einen mit Standheizung. Aber da kümmert sich doch keiner drum — eine Zumutung ist das hier. Dann zieht er sich das Jackett enger um den Leib.

Diese Reportage ist Bestandteil eines Buchprojekts von Martin Groß, das im Herbst bei Basisddruck erscheint.

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