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INSTALLATIONEN ■ »TROCKENÜBUNG IM NASSBEREICH DER GESCHICHTE«
Die halb-parterre-gelegene Drei-Zimmerwohnung in der Mulackstraße 23 teilten sich in den zwanziger Jahren zwei vierköpfige Familien. In der angeschlossenen Ladenwohnung lebte und arbeitete ein Friseur. Im Souterrain hauste ein Krämer, nebendran war ein Puff und gegenüber die berühmt-berüchtigte Zuhälterkneipe Mulack-Ritze. Früher waren die Straßen des Scheunenviertels proppevoll und hier brodelte das ordinäre Leben Berlins.
Neun junge Künstler aus Berlin-West haben sich die Räume der Mulackstraße 23 ausgewählt, um das vorgefundene Spannungsfeld Vergangenheit-Gegenwart anhand von Installationen zu thematisieren.
»Gewinner und Verlierer bestimmt bei jedem Durchgang erneut das Los«. Mit diesem von Peter Stauss in das Trottoir eingemeißelten Geschichtsslogan wird der Besucher empfangen, bevor er überhaupt die Ausstellung betritt.
Von innen schallt Kneipengegröhl heraus. Der Durchgang beginnt. Der Raum, in dem einst der Friseur schnippelte, ist leer. An den Wänden hängen vier unbewegliche Hampelmänner und im verdunkelten Schaufenster reagieren violette Lampen auf dumpfes Kaschemmengebrummel.
Im Zimmer nebenan zwitschern Vögel. Auf einem Stahlgestell steht ein Futternapf gefüllt mit Sonnenblumenkernen und Wasser. Kein Vogel weit und breit, nur aus einem Cassettenrecorder tönt es laut. Die »Vogellockstation« von Sven Flechsenhar steht direkt am weitgeöffneten Fenster und animiert die Kiezvögel zum Tirillieren. Seine Absicht ist, die Gegenwart ins Zimmer zu holen. Er ist der einzige, der sich explizit nicht auf die Geschichte bezieht, sondern betont atmosphärisch bleibt. »Ich wollte nicht sofort Bescheid wissen«, mit diesen Worten beugt Sven Flechsenhar lakonisch einer verkürzten Betrachtungsweise vor.
Stefan Hirsig stapelt gerne. Im Nebenzimmer stehen Stapel vergilbter Notizbücher eines Architekten, Photohaufen mit Aufnahmen aus dem Kiez und zerschnipselte Bilderreste von seinen eigenen Bildern, die er alle mit Ölfarbe verklebt und in Plexiglassärgen im Raum aufgehängt hat. Diese »Erinnerungsspeicher« beinhalten Informationen über die Vergangenheit, Gegewart, die Zukunft und den Künstler selbst. Die Info-Materialien sind zwar da, aber unzugänglich.
Ein ähnliches Gefühl hat man in all diesen Räumen. Der Betrachter ist umgeben von einem Speicher voll Erinnerungen. Man ahnt, was hier einmal los war, kann aber über das bloße Gefühl nicht herauskommen. Sinn dieser Ausstellung ist es nicht, zu Erfassen oder »Bescheid zu wissen«, sondern vielmehr zu emotionalisieren: jeder auf seine Art, sowohl der Künstler als auch der Betrachter. Der Durchgang ist noch längst nicht beendet, aber an dieser Stelle genug der Worte. Attila Weidemann (photo: Anke Cott)
BIS1.6.,TGL.14BIS20UHR,MULACKSTR.23
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