: Träume von Groß-Israel, Depression der Intifada
■ Der Golfkrieg hat auf Israels Seite die Unversöhnlichkeit befördert. Gebiete der Palästinenser bleiben besetzt und eine internationale Friedenskonferenz wird torpediert.
Ungefähr 10.000 Israelis hatten sich am 26.Mai auf dem Stadtplatz von Tel Aviv versammelt, um ihre Solidarität mit dem bereits einen Monat lang hungerstreikenden Abie Natan zu demonstrieren. Sie wollten Abie zeigen, daß er nicht allein ist in seinem erneuten Einsatz für die Abschaffung des Gesetzes, das alle Kontakte von Isarelis mit Vertretern der PLO verbietet. Wegen seiner früheren Proteste in Form demonstrativer Zusammenkünfte mit der Palästinenserführung im Ausland saß Abie Natan bereits im israelischen Gefängnis. Ein weiteres Verfahren gegen ihn soll im September zur Verhandlung kommen, weil Natan erneut bei einer Pressekonferenz mit Arafat erschienen war, und dem Gesetz zum Trotz dort öffentlich über Fiedensschritte diskutierte. Es ist Abie Natans Art, durch herausfordernde Gesten eines Einzelgängers öffentliches Aufsehen zu erregen und möglichst viele Medien, Meinungsmacher und Menschen überhaupt in Bewegung zu setzen, damit Isarelis und Palästinenser ins Gespräch kommen.
„Wie soll man zum Frieden kommen, wenn man mit dem Feind nicht über Frieden reden darf?“ fragte Natan seine Richter. Aber die Knessetmehrheit weigert sich, das Verbotsgesetz zu revidieren, und Natan bleibt im Hungerstreik „bis zum Ende“. Zu dem Happening mit Abie Natan war die Friedensszene angetreten, ein paar Führer der Oppositionsparteien, junge Leute aus Kibbuzim, und einige Veteranen, die man bei Peace now-Demos zu sehen pflegt. Man stand da, mit brennenden Kerzen und sang die Lieder mit, die eine lange Reihe von Stars anstimmten. Eine wohlbekannte Routine; auch die Gegendemonstration, eine Gruppe von rechtsextremen Jugendlichen am Rande des Platzes. „Abie, wir hoffen, daß du nie mehr essen wirst!“ schrie man dort.
Von seinem Rollstuhl her hörte man Abie mit schwacher Stimme sagen: „Die Verhetzung seitens der Regierung ist jetzt so groß, daß wir überhaupt erst miteinander, im Rahmen des eigenen Volkes und im eigenen Land ins Gespräch kommen müssen. Leute haben mich während des Hungerstreiks besucht, um mir zu sagen: ,Verreck doch schon!‘ Aber es gab auch andere, die mich umarmten. Ich hoffe, Euch alle bei einem großen Fest wiederzusehen: wenn der Kampf zuende ist, weil die Feinde ins Gespräch gekommen sind.“
Der Stadtplatz vor dem Rathaus hatte schon zwanzigmal größere Friedenskundgebungen gesehen. Die Friedensbewegung ist heute schwer auf die Beine zu bringen: Sie hat sich bisher von ihrem Zusammenbruch in den Golfkriegswochen noch nicht recht erholen können.
Ungewöhnlich war hier nur die Beteiligung des Tel Aviver Bürgermeisters Schlomo Lahat, der ein Mitglied der Likud-Partei (des Ministerpräsidenten) ist. „Politisch“ will der Bürgermeister nichts mit den Demonstranten zu tun haben: „Ich will mich nur mit Abie Natan solidarisch erklären und die Abschaffung des Gesetzes fordern, das Gespräche mit PLO-Leuten verbietet. Nur wenn man ins Gespräch kommt, kann es zu Verständigung kommen. Man muß einen Mann wie Abie Natan, der schon 30 Jahre Opfer bringt, damit wir in Frieden leben, zu schätzen wissen. Aber auch wenn das Gesetz nicht abgeschafft oder geändert wird, müssen wir Abie bitten, seinen Hungerstreik abzubrechen, weil sein Leben in Gefahr ist.“
Auch die Arbeiterpartei für Sprachlosigkeit
Andererseits gab es gerade unter den Führern der Oppositionsparteien, die sich als Teil des „Friedenslagers“ betrachten, Kritik an Natans Kampagne. Der linksliberale Knessetabgeordnete Jossi Sarid fand den Hungerstreik falsch, weil es heute keine parlamentarische Mehrheit für die Änderung des Gesetzes gibt, das Natan bekämpft. Außerdem, behauptet Sarid, gab und gibt es Hunderte von Gelegenheiten, mit PLO-Leuten ins Gespräch zu kommen, ohne mit dem israelischen Gesetz zu kollidieren. Tatsächlich gab es bereits Hunderte solcher Begegnungen. Doch Abie Natan besteht darauf, daß seine Kontakte provokativen Charakter haben — und dann kommt es zu Gerichtsverfahren.
Die Parteikollegin Sarids, Frau Schulamit Aloni (Knessetmitglied für die „Raz“-Liberalen) klagte darüber, daß Natan „auf unfaire Weise Druck auf uns (Oppositionsfraktionen in der Knesset) ausübt.“
Mapam-Abgeordneter Yair Zaban wurde deutlicher: „Natans Forderungen sind jetzt politisch falsch, weil der Stern der PLO im Sinken ist. Auf der Tagesordnung der Regierung stehen jetzt Gespräche mit Führern der Palästinenser in den besetzten Gebieten; und die PLO wird gezwungen sein, ihre Vormachtstellung aufzugeben, und sich damit begnügen müssen, nur hinter den Kulissen zu agieren. Es ist also nicht zeitgemäß, die Frage der Verhandlungen mit der PLO jetzt erneut aufzuwerfen.“
Die Führer der Arbeiterpartei — alle ehemaligen Minister in der „großen Koalition“ — waren nicht erschienen, als die gegenwärtige Koalitionsmehrheit einen Oppositionsvorschlag zur Änderung des Verbotsgesetzes ablehnte. Begründet wurde die „Kollektivflucht“ damit, daß die Beteiligung der Arbeiterpartei-Führung an der Abstimmung zugunsten einer Gesetzesänderung von der Bevölkerung mißverstanden worden wäre, so nämlich, als ob die Arbeiterpartei Verhandlungen mit der PLO gutheißen würde: was natürlich nicht der Fall ist (das Gesetz war 1986 mit Arbeiterpartei-Unterstützung angenommen worden).
Kurz, man drückte Natan sehr herzlich die Hand, „man schätzt den Menschen“, distanziert sich jedoch auch recht ärgerlich von seinem politischen Credo, das nichts mit Parteipolitik irgendwelcher Art zu tun hat. Gandhi ist jetzt sein Vorbild. Auf seinen Grabstein will er nur ein Wort geschrieben haben: „Nisiti“ („Ich hab's versucht.“). „Mein ganzes Leben lang habe ich versucht zu helfen“, sagt Abie jetzt. „Ich hab's versucht und bin erbarmungslos erfolglos geblieben. Erfolg bedeutet, daß viele andere Leute mitmachen, weitermachen, wenn ich nicht mehr vorhanden bin.“
Die Aktionen des israelischen Friedenslagers, oder besser: deren Fehlen während Abie Natans Kampagne, ist charakteristisch für die derzeitige Situation. Seit der Golfkrise und insbesondere während des Kriegs gegen Irak hat die israelische Opposition kaum mehr eine eigene Politik gemacht, die wesentlich von der Linie der rechtsreligiösen Regierungskoalition abgewichen wäre. So etwas wie nationale Einheit konnte Ministerpräsident Schamir auch angesichts der Masseneinwanderung und notwendigen Integrationsbemühungen erzielen.
Tauben werden heller, Falken noch schärfer
Dazu kam dann die Baker-Initiative für die Einberufung einer regionalen Konferenz. Sie war als „Starter“ für direkte Friedensgespräche der arabischen Staaten mit Israel gedacht, zu denen parallel Verhandlungen zwischen Israel und den Palästinensern für eine Zwischenlösung in den besetzten Gebieten laufen sollten. Die Führer der Arbeiterpartei sicherten Schamir sofort ihre volle Unterstützung zu, wenn seine Regierung an dem Baker-Projekt mitwirken würde. Hie und da gab es zwar Kritik an bestimmten Aspekten der zu wenig elastisch oder konstruktiv erscheinenden Zusammenarbeit mit Washington; und die Opposition versuchte Schamirs Verhandlungen mit Baker anzuspornen, kooperativer zu sein oder weniger Hindernisse aufzubauen, die den Erfolg der amerikanischen Initiative in Frage stellen. So gab es Angriffe gegen die Intensivierung des Siedlungsbaus in den besetzten Gebieten — vor allem am Westufer des Jordan und auf den Golanhöhen. Aber im großen und ganzen verhielt sich die Opposition loyal und vermied größere Auseinandersetzungen mit der Regierung. Die Opposition hat in der gegenwärtigen Lage nur Korrekturen, aber kein alternatives Programm anzubieten.
Während des Golfkrieges und den Erfahrungen der Israelis mit den irakischen Scud-Raketen, konnte man leicht den Eindruck gewinnen, daß die jüdische Bevölkerung des Landes für Friedensinitiativen und die damit verbundenen Konzessionen (Rückzug aus den besetzten Gebieten zugunsten der dort lebenden Bevölkerung im Rahmen einer politischen Lösung, die Frieden und Sicherheit garantiert) zugänglicher geworden sei. Die Publizistin Schulamit Hareven schrieb noch am 8.März 1991 in der hebräischen Zeitung Jediot Achronit unter der Überschrift „Die Zukunft ist schon gekommen“: „Sechs Wochen Golfkrieg haben uns mit unglaublicher Geschwindigkeit in eine neue Epoche geschleudert; und politische Führer aller Parteien, die für derlei enorme Veränderungen in der israelischen Gesellschaft blind bleiben, werden sehr bald feststellen müssen, daß sie ohne Anhänger und Wähler dastehen... Wir leben heute in einem anderen Israel — ein Israel, das entdeckt hat, daß Situationen auch ohne Gegenschläge zu meistern sind; daß Leben wichtiger ist als Besitz; daß wir ein Teil der Welt sind und nicht abseits der Völkergemeinschaft existieren; daß wir Alliierte einiger arabischer Staaten sind und nicht mehr Feinde. Wir sind ein Israel, das die Grenzen der Macht selbst erkannt hat. Morgen ist schon hier, bei uns, in unseren Häusern. Und wenn unsere Politiker nicht Schiffbruch in einer Welt von gestern erleiden wollen, dann haben sie einfach keine andere Wahl, als die bereits vorhandene Zukunft mit dem einzig passenden Ausdruck zu begrüßen: ,Schalom, Frieden.‘“
Umfragen der Soziologen und Meinungsforscher konnten diese optimistische und vielleicht sogar logische Darstellung allerdings nicht bestätigen. Bereits einen Monat nach den Ausführungen der wohlmeinenden Publizistin fanden die Meinungsforscher des Strategischen Instituts der Tel Aviver Universität heraus, daß die tatsächlich vielen Israelis, die im Golfkrieg ihre politischen und „militärischen“ Ansichten geändert haben — fast ein Drittel der jüdischen Bevölkerung —, eigentlich nur eine Polarisierung innerhalb der Lager der „Falken“ und „Tauben“ verursachen. Professor Ascher Arian, der die Umfrage leitete, kam zu dem Schluß, daß die Falken im Rahmen ihres Lagers extremer geworden sind, während sich bei den Tauben, die schon vorher Tauben waren, eine größere Konzessionsbereitschaft eingestellt hat.
88 Prozent billigen A-Bomben-Einsatz
Im großen und ganzen hat es zwischen den Lagern eher eine Verschiebung zugunsten der Falken gegeben, und die Anzahl der Leute, die auf einem „Großisrael um jeden Preis“ bestehen, ist im Zug des Krieges gestiegen. Ungefähr ein Drittel der Befragten erklärte sich bereit, einen palästinensischen Staat neben Israel zu akzeptieren. Aber die Tatsache, daß mehr als die Hälfte der israelischen jüdischen Bevölkerung sehr eindeutig und scharf gegen die Errichtung eines selbständigen palästinensischen Staates steht, „ist noch immer eine enorm große Barriere, die keine Bewegung zuläßt“, sagte Professor Arian.
Gegenüber den Arabern Isarels und den Palästinensern existiert mittlerweile eine größere Feindschaft unter den jüdischen Isarelis als bisher. Mehr als die Hälfte der Befragten verlangte „härtere Schritte gegen Palästinenser“ in den besetzten Gebieten und 39Prozent forderten deren Vertreibung zusammen mit den Arabern aus „Großisrael“. Ebenso bedenklich ist die Einstellung zur Atombombe: Nicht weniger als 91Prozent der befragten 1.130 Personen bejahten die Produktion von Atomwaffen. Das sind 13Prozent mehr als 1987. 88Prozent sagen, daß sie auch die Verwendung von Nuklearwaffen billigen würden. Ihre Zahl hat sich seit 1986 weit mehr als verdoppelt.
Gleichzeitig weisen die jüngsten demoskopischen Umfragen auf eine weitverbreitete Unzufriedenheit der Bevölkerung mit der Regierungspolitik hin, allerdings vor allem in bezug auf ungelöste wirtschaftliche Probleme: wachsende Arbeitslosigkeit, Wohnungsnot, zunehmende Armut breiter Schichten, während die Reichen viel reicher werden — Schwiergkeiten, die durch die große Einwanderungswelle aus der Sowjetunion in hohem Maße verschärft werden. Insgesamt zeichnet sich vorläufig die Tendenz zu einer weiteren Rechtsradikalisierung deutlich ab, vor allem, weil die Opposition keine glaubhaften, überzeugenden Alternativlösungen anzubieten hat.
Der Einfluß der Neueinwanderer auf die nächsten Wahlen im Herbst 1992 ist noch nicht klar abzusehen, aber die linken Oppositionsparteien können kurzfristig weder bei „Russen“ noch „Äthiopiern“ auf Unterstützung hoffen. Auf die eingewanderten äthiopischen Juden haben sich vor allem die religiösen Parteien gestürzt, während die zahlreichen Einwanderer aus der SU bei der Suche nach materieller Absicherung von den Regierungsinstanzen abhängig sind und eine möglichst rasche, insbesondere berufliche Integration anstreben. Die Unzufriedenen und Enttäuschten neigen eher dazu, wieder auszuwandern, als sich an Kämpfen der israelischen Oppositionsparteien zu beteiligen, von denen sie sich meistens auch ideologisch distanzieren.
Nur Kooperation mit den Nachbarn schafft Arbeit
Andererseits muß man mit Spaltungen bestehender Parteien rechnen und einer Neugliederung politischer Strukturen, sobald eine internationale/regionale Konferenz und ein Verhandlungsprogramm dem langjährigen Status quo ein Ende setzt und damit neue zwischenstaatliche Beziehungen im Nahen Osten entstehen. Die Rückwirkung einer solchen Dynamik auf die internen Verhältnisse in Israel wird wahrscheinlich vieles, was heute stabil und dauerhaft und durch bestehende Tendenzen in der Bevölkerung nur noch stärker zu werden scheint, ins Wanken bringen und verdrängen. Eine dann mögliche Veränderung der Machtverhältnisse hat selbst Schamir in einem 'Le Monde‘-Interview jüngst antizipiert.
Ohne Friedenslösung und regionale Zusammenarbeit kann keine Regierung die Probleme lösen, vor denen Israel jetzt steht. Eine erfolgreiche Eingliederung der vielen Neueinwanderer — darunter ein hoher Prozentsatz von Akademikern, Künstlern und Experten verschiedenster Gebiete — ist nur denkbar, wenn gemeinsame Entwicklungsprojekte mit arabischen Nachbarstaaten möglich werden. Was sollte Israel mit einem bereits vorhandenen Zuwachs von nahezu 6.000 Ärzten aus der Sowjetunion machen, mit Tausenden von Ingenieuren und Technikern, die (in einem 4,5-Millionen-Land mit zehn Prozent Arbeitslosigkeit) in ihrem Beruf keine Arbeit finden können? Ohne eine politische Lösung des Konflikts und Herstellung von Sicherheit bleibt Israel für ausländisches Investitionskapital unattraktiv. Für eigene Entwicklungspläne und Arbeitsbeschaffung fehlt das nötige Geld, weil mehr als ein Drittel des Jahresbudgets für Militärauslagen bestimmt ist.
Israel kann nur wirtschaftliche (und damit auch politische) Unabhängigkeit erreichen, wenn es produktiver wird und viel mehr exportiert. Das ist nur im Zustand des Friedens möglich, sobald mit den Nachbarstaaten Handel getrieben und das Potential für gemeinsame landwirtschaftliche und industrielle Produktionen, etwa in der Chemie- und Textilbranche, genutzt wird. Die stets kritischer werdenden Wasser- und Energieprobleme sind ebenfalls nur aufgrund regionaler Zusammenarbeit lösbar. Und gemeinsame Projekte auf dem Gebiet des Tourismus hätten für alle Länder des Nahen Ostens einträgliche Vorteile.
Nur solche Aussichten können der israelischen Jugend und den Hunderttausenden von Neueinwanderern Hoffnung auf ein wirklich sicheres Leben in Israel geben — und es wäre deshalb nur logisch, wenn sie sich bald und im eigenen Interesse auf die Seite derer stellen, die für sich eine möglichst rasche politische Konfliktlösung einsetzen.
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