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Zu tief ins Glas geschaut

■ Die Münchner Kammerspiele mit ihrem »Faust« im Deutschen Theater

Bisweilen leuchtet sogar in der Theaterlandschaft ein Funken Anstand und Ehre. Dieter Dorn zum Beispiel, Intendant der Münchner Kammerspiele, hat mit Thomas Langhoff, Intendant des Deutschen Theaters in spe, eine Art »Freundschaftsvertrag« geschlossen. Beide wollen nicht nur ihre eigenen Häuser mit Gastspielen des jeweils anderen bereichern, sondern sogar Schauspieler austauschen. Das Vorhaben ist eine Geste der Solidarität von seiten Dorns. Bekanntlich hat Langhoff seine finanziellen Forderungen noch nicht durchsetzen können und deshalb seinen Vertrag auch bislang noch nicht unterschrieben.

Das ostwestliche Publikum des Deutschen Theaters weiß offenbar um den Ernst der Lage. Es zeigte sich bei der Premiere des Münchner Faust finster entschlossen, was immer da kommen möchte für hervorragendes Theater zu halten. Immerhin läuft dieser Faust schon seit vier Jahren. Die Inszenierung ist der Stolz der Kammerspiele.

Der Regisseur eröffnete den Abend mit einer Ansprache. Gerade sei ihm ein »Stein vom Herzen geplumpst«. Romuald Pekny, der Darsteller des Mephistopheles, sei akut erkrankt. Bis vor wenigen Minuten habe man nicht gewußt, ob er spielen werde. Er werde spielen. Jubel im Publikum. Opfer für die Kunst werden hoch angerechnet. In der Tat hielt Pekny mehr, als sein Regisseur versprochen hatte. Sein wahrhaft infernalischer Charme trug die Inszenierung über die reichlichen Klippen und Untiefen hinweg. In den vier Jahren dieses Faust hat Pekny ihn zu seiner Live-Show gemacht. Er räkelt sich geil an der Rampe und flirtet schamlos mit dem Publikum. Sein selbstverliebtes, sattes Grinsen versichern uns ein für allemal, daß wir mit Fausts Problemen nichts mehr zu schaffen haben. Die Tragödie ist tot, es lebe das Entertainment.

Faust-Darsteller Helmut Griem gibt sich kampflos geschlagen. Unwirsch und schlecht gelaunt kaut er auf Goethes Versen herum, als gelte es, ein unwillkommenes Frühstück zu vertilgen. Der Text hängt ihm zum Hals raus. Auch die ersehnte Verjüngung hebt ihn nicht aus dem Stimmungstief. Erst recht der sexuelle Heißhunger scheint für Griem eine lästige Pflicht, die er der Rolle schuldig ist. Im Grunde wäre er lieber der alte Griesgram geblieben, und daß die vollbusige Helena hinter der Peepshow-Scheibe sofort verschwindet, wenn er sich ihr nähert, ist für Griem ein einziger Segen. Weshalb Gretchen gerade diesem charmelosen Muskelmann verfällt, bleibt ein Rätsel, das auch Sunnyi Melles backfischhafter Liebesfuror nicht löst. Das hochgepriesene Ensemble der Kammerspiele zeigt mindestens diesmal Einzelkämpfer am Werk. Jeder gegen jede und Mephisto gegen alle. Ohnehin ist Schauspielerei in dieser Inszenierung Nebensache. Der Star des Abends ist das Bühnenbild von Jürgen Rose, ein Gesamtkunstwerk und eine Augenweide für Freunde der ‘heftigen Malerei‚. Wie die Sonne duldet auch Rose kein Weißes. Er schwelgt in seiner fetten Palette: Das Studierzimmer des Doktor Faust ist eine chromgelb angestrichene Schachtel und der Doktor selbst eine in preußischblau gehaltene Figurine darin. Karminrot leuchten die Köpfe der Philister in Auerbachs Keller, und die Hexenküche besteht aus einer Unzahl geschmackvoller Schwarz- gelb-Variationen.

Für prüde möchte Dorn nicht gehalten werden. Behaarte Primaten wedeln in der Hexenküche ihr entblößtes Hinterteil in Richtung Publikum, und in der Walpurgisnacht vergnügen sich die Hexen kreischend mit ihren Besenstielen. Offensichtlich haben die Damen, bevor sie hier Roses Kollektion luftiger Sommerkleider präsentieren, erheblich zu tief ins Glas geschaut.

Manchmal ist dem Regisseur ketzerisch zumute. Die Marienstatue in Gretchens Schlafkammer gleicht einem ins Überdimensionale geblähten Norbert Blüm. Sie hat einen fiesen Blick und fällt am Ende lüstern über die arme Sunnyi Melles her. Seltsamerweise lassen Dorns drastische Einfälle nie mehr als ein Gefühl peinlicher Berührtheit zurück. Sie passen nicht in den malerisch arrangierten Bilderbogen. Je später der Abend, desto kürzer die Szenen und je länger die Pausen. Faust wird in schrillen Spots abgewickelt. Die Techniker leisten Schwerarbeit, und die Jazz-Combo, die die Umbaupausen überbrücken soll, ist ununterbrochen beschäftigt. Die Pein, die sie bereitet, bekäme Vladimir Nabokovs Lärmskala von hundert möglichen mindestens siebzig »Quälinge« verliehen. Vermutlich geht die Geschichte, die hier zwischen Free Jazz und New Spirit of Painting gespielt wird, nicht gut aus. Man merkt es kaum. Doja Hacker

Faust nochmalig heute, 18 Uhr, im Deutschen Theater.

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