piwik no script img

FLIEHEN – ABER WOHIN?Budapest, das Tor zum Westen

Budapest, Keleti-Bahnhof: Wartesaal für Flüchtlinge, Umschlagplatz für Menschenschlepper. Die ungarischen Behörden sprechen von einem „Flüchtlingsstau“. Budapest ist die letzte Station auf dem Weg in den „goldenen Westen“, die österreichische Grenze das Tor, an dem fest gerüttelt wird. Vermutlich 40.000 Flüchtlinge warten allein in Budapest auf die Weiterreise.  ■ VON MICHAEL VÖLKER

Im Wartesaal hängt eine Luft wie aus tausend alten Socken, und obwohl es draußen kalt ist und regnet, gleicht die Temperatur auch ohne Heizung der eines Gewächshauses. Die Bänke sind weggeschoben, an den Wänden stapelt sich das Gepäck: Keleti- Bahnhof in Budapest, die letzte Station zum Westen. Die übriggebliebenen Habseligkeiten sind verpackt in Plastiksäcken, Taschen und Koffern oder einfach nur mit einer Schnur zusammengebunden. Der Steinboden ist mit Kartons ausgelegt, darauf drängen sich etwa 200 Menschen, die im harten Neonlicht den Schlaf suchen. Wodka aus der Heimat soll ihnen dabei helfen. Selbstgebrannt, abgefüllt in Mineralwasserflaschen, der letzte Vorrat aus Polen, Rumänien, Bulgarien, der Sowjetunion.

Keleti Pialyaudvar ist einer der zwei großen Bahnhöfe in Budapest. Ein verlottertes Gebäude aus der Monarchie, erbaut von Gustav Eiffel, mit U-Bahn-Anschluß, Drehscheibe der Flüchtlingsbewegung, Schwarzmarkt, lukrativer Geschäftsort der Schlepperorganisationen. Auch wer am Flughafen ankommt, noch keinen „Freund“ hat, der ihm und seiner Familie gegen harte Devisen den Weg in den Westen weist, fährt zum Keleti- Bahnhof.

Der Einfachheit halber organisieren die Schlepperbanden auch gleich den Schwarzmarkt. Die vielen Change-money- change-money-Gestalten, die am Eingang des Keleti-Bahnhofs mit sicherem Blick jeden Fremden aufspüren, sind ein praktisches Vorwarnsystem gegen Razzien der Polizei, die ohnedies selten genug stattfinden. Die Devisenhändler kommen aus Ägypten, dem Libanon, Pakistan, den Philippinen. Sie haben Aufenthaltsgenehmigungen für fünf, zehn, fünfzehn Jahre, leben gut hier in Budapest, wollen bleiben. Ebenso die Schwarzafrikaner, die mehr oder weniger legale Jobs gefunden haben und sich allabendlich am Abgang zur U-Bahn treffen. Im Wartesaal vermischen sich die Reisenden, die von Ost nach West wollen, mit den Roma, Ausgestoßene auf dem Weg durch die Lande, und den Obdachlosen, der Bodensatz des ungarischen Weges. Die Züge, die aus Warschau, Belgrad, Bukarest, Leningrad und Moskau kommen, sind gut belegt. Leer sind die Züge, die wieder zurückfahren oder in den Westen, denn ohne Visum geht es nicht über die Grenze. Nicht mit dem Zug.

Ungarn ist das Tor zum Westen. Ein Tor, das halb verschlossen ist, an dem heftig gerüttelt wird. Die einfachen Einreisebestimmungen und die billigen Flüge der Ostlinien bringen Flüchtlinge aus der ganzen Welt, die über Ungarn in den „goldenen Westen“ gelangen möchten. Kurden, Araber, Assyrer, Asiaten oder einfach Menschen aus den ehemals sozialistischen Brüder- und Schwesterländern. Die ungarischen Behörden sprechen von einem „Flüchtlingsstau“. Offiziell handelt es sich um 32.000 Flüchtlinge, 20.000 davon allein in Budapest. Die wirkliche Zahl liegt vermutlich doppelt so hoch.

6.000 Menschen wurden im zweiten Halbjahr 1990 von Österreich nach Ungarn „zurückgeschoben“. Eine Tendenz, die anhält. In den Pässen, sofern vorhanden, ist dann ein Aufenthaltsverbot vermerkt: fünf Jahre beim ersten Mal, lebenslang beim zweiten Mal.

Der Einsatz des österreichischen Bundesheeres an der grünen Grenze hat der Route über Ungarn in den Westen zwar etwas an Attraktivität geraubt, dennoch ist der Budapester Markt heiß umkämpft. Nicht selten werden die Einflußsphären der Schlepperbanden, zumeist Türken, mit der Waffe in der Hand festgelegt. Zuviel Geld ist hier zu verdienen, als daß der Markt dem Zufall überlassen werden könnte.

Der Keleti-Bahnhof ist jedenfalls neutraler Boden. Wenn hier wer kämpft, dann sind es entnervte Flüchtlinge, die ihre Meinungsverschiedenheiten mit dem Messer austragen. Das bringt Ärger mit der Polizei, die halbstündigen Patrouillengänge durch den Bahnhof finden dann plötzlich wirklich alle halben Stunden statt, das ist schlecht für das Geschäft. Deshalb sorgen die Schlepper für Ordnung. Wer sich nicht daran hält und Ärger macht, bekommt Besuch von türkischen Herren mit ausgebeulten Sakkos, und fliegt raus.

Im Wartesaal herrscht gedrückte Stimmung. Diejenigen, die schon an der Grenze waren, es nicht geschafft haben, denen das Warten auf eine ohnedies ungewisse Zukunft die Kraft raubt, die Nerven schwächt, die Resignation stärkt, drücken die Euphorie der frisch Angekommenen, kühlen Hoffnungen ab, säen Zweifel. Unerträglich nimmt sich die Musik aus einer Ecke von Neuen aus, die glauben, am Sprung in ein besseres Leben zu sein, ihr gesamtes Vermögen in den „Onkel“, der Hilfe versprochen hat, gut investiert zu haben.

Die Kinder tanzen, das Leben in der Wartehalle ist neu und aufregend, die Zukunft, hat man ihnen gesagt, wird voll von angenehmen Überraschungen sein. Böse Blicke, fahrige Worte von den anderen, die ihrer Verzweiflung keinen anderen Ausdruck geben können, als die Neuen zu unterdrücken, ihnen ihre Wut aufzudrängen. Die gemeinsame Situation, die ungewisse Zukunft, das Warten, es eint nicht, es entzweit. Jeder gegen jeden. Daß im Westen soviel Platz und Freude über ihr Kommen nicht vorhanden ist, macht das Leben nicht leichter.

Die Schlepper verdienen gut an diesem Elend. Es sind mächtige Banden, mit einflußreichen Freunden und einer Organisation, die dicht ist – und hält, die in viele Staaten sowohl im Osten als auch im Westen reicht. 300 Dollar pro Kopf und Grenze sind das Minimum, 2.000 für den ganzen Trip etwa der Durchschnitt. Schmuck und Uhren werden als Draufzahlung abgenommen. Wer Hilfe braucht, läßt sich alles gefallen. Die Schlepper, sagen sie, sind gute Menschen. Sie helfen.

Der Weg in den Westen führt mit dem Bus zur Grenze, dann wird den Flüchtlingen der Weg über die Felder gezeigt. Der Schlepper geht nicht mit. Das Risiko, geschnappt zu werden, ist zu groß. Auf der anderen Seite der Grenze wartet ein Geschäftspartner, wieder mit dem Bus. Bis zur nächsten Grenze. Die wenigsten wollen in Österreich bleiben. Deutschland, Schweiz und Frankreich sind die bevorzugten Ziele.

Eine Gruppe Pakistani hat sich, für den Fall, daß einer von ihnen geschnappt wird, sprachlich weitergebildet: „Traiskirchen“, ist das einzige deutsche Wort, das sie können. Sie sprechen es perfekt aus, jeder kennt es, sie haben geübt. Traiskirchen, das größte österreichische Flüchtlingslager, ein Begriff weit über die Grenzen hinaus. Oft der einzige Begriff, den Flüchtlinge von Österreich haben.

Daß das Lager Traiskirchen wegen Überfüllung und offener Feindseligkeit der dort ansässigen Bevölkerung längst mit einer Aufnahmesperre belegt ist, wissen die wenigsten.

Michael Völker arbeitet als Journalist für den österreichischen „Standard“.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen