GEN NORDEN – GEN WESTEN: Östliche Wanderlust und Seßhaftigkeit
■ In welchen Ländern ist die Wanderfreude am größten, in welchen die Seßhaftigkeit? WORLD MEDIA hat das französische Meinungsforschungsinstitut IPSOS beauftragt, dazu in Polen, Ungarn, der CSFR und dem Großraum Moskau einen repräsentativen Bevölkerungsquerschnitt zu befragen. Die Antworten ergeben eine Art Migrationsklima: Die Tschechoslowaken wandern allen voran, die allermeisten Ungarn lehnen den Auszug ab, nicht wenige Russen sehen Millionen in die Fremde ziehen. Die Auswanderer sind meist männlich jung hochqualifiziert. Und: Viele wollen hin- und herpendeln. Die Ergebnisse kommentiert ERHARD STÖLTING
Im Sommer 1990 kündigte die sowjetische Regierung an, daß sie ab 1991 ihre Staatsbürger frei ausreisen lassen wolle – zuerst hieß es, ab Januar, dann: ab Mitte des Jahres. Das verstärkte die schon in den osteuropäischen Umbrüchen von 1989 entstandenen Besorgnisse, daß Westeuropa von einer großen Welle von Arbeitsmigranten aus dem ehemals sozialistischen Osteuropa heimgesucht werden könnte. Anders als bei den Aussiedlern war nun mit unkalkulierbaren Entwicklungen zu rechnen, die man öffentlich begrüßte und insgeheim fürchtete.
Die Emigrationsbereitschaft würde vor allem durch zu erwartende Arbeitslosigkeit gefördert. Es war klar, daß die Umstellung auf Marktwirtschaft in Osteuropa zumindest mittelfristig krisenhafte Zustände herbeiführen würde. Der Mangel an technischer, organisatorischer und wirtschaftlicher Kompetenz und Erfahrung machte einen raschen Erfolg der bisher sozialistischen Volkswirtschaften unwahrscheinlich. Viele Firmen, die sich dem Weltmarkt ungeschützt aussetzten, würden zugrunde gehen.
Das ausländische Kapital würde sich angesichts der überall maroden Infrastruktur zurückhalten, zumal Geld für deren Sanierung nicht da war. Die verbleibenden Betriebe müßten überschüssige Arbeitskräfte entlassen, um ihre Produktivität zu steigern und Kosten zu sparen. Die bisher in unsinnigen oder überflüssigen Tätigkeiten verdeckte Arbeitslosigkeit würde zur offenen. Die Folge schien klar zu sein: Zumindest mittelfristig Arbeitslosigkeit und Massenelend. Wie viele Emigranten durch diese Entwicklungen in Bewegung gesetzt würden, ließ sich eher in schaurigen Bildern als in nüchternen Ziffern vorstellen. Mit Zahlen jongliert wurde vor allem bei den Sowjetbürgern: Mit zwei bis drei Millionen Auswanderern sei aus seinem Lande zu rechnen, behauptete Anfang Januar 1991 der sowjetische Botschafter bei der Europäischen Gemeinschaft, Wladimir Schemjatenkow. Der Vorsitzende des sowjetischen Staatskomitees für Arbeit und Sozialwesen, Wladimir Schtscherbakow, sprach sogar von sechs Millionen – und das bei einer möglicherweise zu erwartenden sowjetischen Arbeitslosigkeit von insgesamt dreißig Millionen. Von diesen Emigranten habe mindestens die Hälfte mangels Ausbildung im Westen keine Chance. Solche sowjetischen Prognosen sollten im Westen wohl die Bereitschaft zu großzügiger Wirtschaftshilfe stimulieren. Es sei schließlich besser, wenn der Westen Kapital und Arbeitsplätze zu den Menschen bringe, als wenn die Menschen auf der Suche nach Arbeitsplätzen zum Kapital kämen.
Westliche Progosen waren jedoch nicht weniger furchterregend. Zwischen drei und zwanzig Millionen prognostizierte der französische Demograph Jean Claude Chesnais Anfang 1991 in einer Studie, die der Europarat in Auftrag gegeben hatte. Angesichts fehlender Erfahrungen geht es gegenwärtig nicht genauer.
Einiges an Migrationen fand oder findet allerdings bereits statt. Die Deutschen aus der Sowjetunion und aus Rumänien kommen in die Bundesrepublik – aus der Sowjetunion noch etwa 1,8 Millionen, aus Rumänien höchstens noch 100.000. Aus – zumindest offiziell – ethnischen Gründen wandern auch Juden und Griechen aus der Sowjetunion aus. Das gilt auch für den Zug der Roma aus den Ländern Osteuropas in das reichere und, wie sie hoffen, tolerantere Westeuropa; hier handelt es sich allerdings eher um eine Flucht als um eine Auswanderung.
Wichtig bei den zu erwartenden großen Bevölkerungsbewegungen ist die Arbeitsmigration. Die Schwarzarbeit ist verhältnismäßig unerforscht, bisher gibt es über sie mehr Gerüchte als Informationen. Aus einigen Gegenden kommen inzwischen Nachrichten über den Abzug der Hochqualifizierten, die hoffen, ihre Kenntnisse im Ausland entfalten zu können. Zu ihnen gehören vor allem Ingenieure, Naturwissenschaftler und Ärzte, die – anders als Lehrer oder Juristen – mit ihrer Qualifikation nicht an ihren spezifischen Kultur- oder Sprachkreis gebunden sind. 15% der bisherigen Emigranten aus Bulgarien verfügten über einen Abschluß in Naturwissenschaften oder hatten ein postgraduales Studium absolviert. Zwei Drittel waren jünger als vierzig Jahre alt und verfügten über kulturunabhängige, also exportierbare Kenntnisse. Das gleiche gilt für jene Emigranten aus Rumänien, die weder Roma noch Ungarn oder Deutsche sind. Sie waren überwiegend jünger als 35 Jahre. Überrepräsentiert unter ihnen waren Facharbeiter, Ingenieure, Naturwissenschaftler und Ärzte.
In dieser Situation sind empirische Forschungsergebnisse über Migrationsbereitschaft erhellend. Zwar geht nicht jeder, der behauptet, es vorzuhaben. Manch einer wandert aus, obwohl er kurz zuvor noch behauptet hatte, es auf keinen Fall tun zu wollen. Aber eine Art Migrationsklima läßt sich doch herausfinden. Interessante Ergebnisse in diesem Zusammenhang bringt die Ende März bis Ende April durchgeführte Befragung des in Paris ansässigen Meinungsforschungsinstituts IPSOS, in Auftrag gegeben von WORLD MEDIA. In Zusammenarbeit mit Kooperationspartnern in den jeweiligen Ländern wurden in Ungarn, der Tschechoslowakei, Polen und dem Großraum Moskau Fragen zur künftigen Auswanderung gestellt. Je tausend Personen wurden in jedem Land befragt. Die Stichproben waren so angelegt, daß sie von vornherein nach Geschlecht, Alter, Sozialstatus und Wohnorttyp für die Gesamtbevölkerung repräsentativ waren.
Einige Ergebnisse sind bemerkenswert. Am auswanderungswilligsten sind die Bewohner der Tschechoslowakei. 17% von ihnen antworteten auf die entsprechende Frage, daß sie „bestimmt“ oder „vielleicht“ im Ausland zu leben beabsichtigen. Nur 59% von ihnen waren sich sicher, nicht auswandern zu wollen. Das kontrastiert verhältnismäßig scharf mit der Situation in Ungarn. Nur ein Prozent von dort will auf jeden Fall fort, und drei Prozent halten es für möglich. „Bestimmt nicht“ gehen 88% und 7% „wahrscheinlich nicht“. Von den Polen sind es 2% die bestimmt, und 4%, die viellleicht gehen, bei den Russen 1% bzw. 9%.
Die IPSOS-Forscher suchten nach weiteren Faktoren, die das Emigrationsklima umreißen können. So fragten sie, ob man persönlich Leute kenne, die ins Ausland gezogen sind oder solche, die im nächsten Jahr ausreisen wollen. Diese Fragen sind wichtig, weil es einen bemerkenswerten Anschlußeffekt gibt: Kennt man Leute, die schon im Ausland Fuß gefaßt haben, fällt der eigene Entschluß leichter. Nur 20% der wenig emigrationswilligen Ungarn haben persönliche Bekannte, die ins Ausland gezogen sind. Unter den Russen sind es erstaunlicherweise 33%. Bei den reiselustigen Bewohnern der Tschechoslowakei sind es 54% und 62% unter den Polen. Die Reiselust in diesem Lande geht also offenbar zurück. Schließlich wirft ein Licht auf das Emigrationsklima die Frage, was man über jemanden aus dem eigenen Umkreis denkt, der ins Ausland gehen würde. Die Frage wirkte besonders verunsichernd. 43% der Russen, 24% der Polen und 30% der Ungarn konnten sie nicht beantworten. Hingegen waren nur 4% der Bewohner der Tschechoslowakei so unsicher. Sie denken auch zu 65%, daß, wer das Land verläßt, „vollkommen“ oder „mehr oder weniger“ recht hat – nur 47% der Polen, 41% der Ungarn und 40% der Russen denken ebenso. Ein besonderes Licht auf die Wanderlust im Moskauer Raum wirft die Tatsache, daß die Mehrheit (65%) niemanden kennt, der emigriert wäre. Aber 63% kennen Leute in ihrer Umgebung, die ausreisen wollen. Die große Unsicherheit bei der Einschätzung dieses Entschlusses (43%) zeigt, wie neu das Phänomen ist.
Das ungarische Klima hat schon seine Besonderheit. Überdurchschnittlich häufig wollen die Ungarn nicht ins Ausland ziehen, sie kennen auch kaum jemanden, der das will, und sie lehnen es überwiegend ab. Überraschenderweise glauben jedoch 31% von ihnen, daß ihre Landsleute zu Zehntausenden emigrieren werden. Überraschend ist dieses Ergebnis, weil die Auswanderung gewöhnlich von jenen am höchsten eingeschätzt wird, die selbst weg wollen. Keiner ist gern allein. Wie zu erwarten, äußerten sich hingegen die wanderfreudigeren Bewohner der Tschechoslowakei; unter ihnen prognostizieren 16% fünstellige Auswandererzahlen. (Bei weitem die Mehrheit allerdings meint, daß lediglich „Tausende“ das Land verlassen werden.) Unter den Russen glaubt jeder vierte, daß Hunderttausende emigrieren werden; 8% glauben sogar an mehrere Millionen.
Die Befragten jener beiden Länder, aus denen in den letzten Jahren die meisten Emigrationen zu verzeichnen waren und wo daher viele Befragte Ausgewanderte kennen, sind bei Vorhersagen über künftige Emigration am zurückhaltendsten. In Ungarn und Groß-Moskau, wo die Emigrationszahlen erheblich niedriger lagen und wo man die Emigration negativer einschätzt, verweigert man häufiger die Antwort oder neigt zu unrealistisch hohen Prognosen.
Die Emigrationsmotive bieten weniger Überraschungen. Die meisten emigrieren, weil sie eine Anhebung des Lebensstandards erwarten (71% in der CSFR, 62% jeweils in Ungarn und in Groß-Moskau, 61% in Polen). Erhofft wird auch eine bessere Lebensqualität (59% in der CSFR, 50% in Ungarn, 48% in Polen, 44% in Groß-Moskau). Der dritthäufigste, aber weitaus seltener genannte Emigrationsgrund ist die bessere Erziehung der Kinder (je 18% in der CSFR, in Ungarn und in Groß- Moskau, 13% in Polen). Politische Motive werden in aussagekräftiger Anzahl nur noch von den Russen vorgebracht. Noch 12% von ihnen erhoffen sich im Westen Meinungsfreiheit.
Es fanden sich bei den vier befragten Nationen allerdings auch Regelmäßigkeiten, die auch von anderen Migrationsprozessen her bekannt ist. So sind die Jüngeren, die Männer und die Ledigen in allen Ländern überdurchschnittlich migrationsbereit. Bei den unter 25jährigen sind es bei den ansonsten wenig wanderlustigen Ungarn 10%, die mit Sicherheit oder einiger Wahrscheinlichkeit fortgehen werden – der Gesamtdurchschnitt war 4%. 17% der Russen, die jünger als 25 Jahre alt sind, denken an die Abreise; unter den 25- bis 34jährigen sind es sogar 18%. Im Durchschnitt wollen nur 10% ausreisen. Natürlich wollen die Jüngeren durchschnittlich auch länger wegbleiben. Die Reiselust wird gefördert, wenn man in seinem sozialen Umfeld Leute kennt, die fahren wollen oder schon gefahren sind. In ganz Osteuropa gibt es bereits einen Abfluß der Hochschulabsolventen, einen „brain drain“ in die reicheren Industrieländer. Die Hochschulabsolventen kennen in allen vier Ländern am häufigsten Personen, die gegangen sind. Sie wollen vor allem aus der Tschechoslowakei und Groß-Moskau weg: 27% der Hochschulabsolventen gegenüber 17% aller Befragten in der Tschechoslowakei. Bei den Russen sind es 15% gegenüber 10%. In Ungarn hingegen verhalten sich die Hochschulabsolventen dem Durchschnitt entsprechend, aus Polen wollen sie unterdurchschnittlich häufig weg. Offenbar ist Polen ein für Spezialisten anziehendes Land. Fragt man danach, welches Land „die besten Aufnahmebedingungen“ bietet, sind die Favoriten unter den Zielländern Deutschland, Österreich, die USA, Australien und Kanada. In Polen steht Frankreich an fünfter Stelle nach Deutschland und Österreich. In Groß-Moskau herrscht offenbar eine andere Topographie der ausländischen Paradiese. Dort liegen die USA an erster und Frankreich an zweiter Stelle, es folgen Skandinavien, die Schweiz und Kanada bzw. Australien. Deutschland und Österreich sind weniger begehrt. Eine besondere Rolle spielt hier jedoch Israel. 22% der Groß-Moskauer glauben, daß dieses Land die besten Aufnahmebedingungen bietet; 43% geben allerdings den USA den Vorzug. Nur 3% der Polen hingegen sehen Israel ähnlich. Allerdings: befragt, in welches Land sie tatsächlich gehen würden, wenn sie auswandern müßten, wollen nur 3% der befragten Russen nach Israel gehen; das sind immer noch viele, bedenkt man, daß Juden in der Stichprobe nicht überrepräsentiert waren. Gerade das letzte Ergebnis zeigt im übrigen die Bedeutung von regional verbreiteten Gerüchten und Informationen bei der Entstehung von Migrationsbereitschaft. Schließlich wird in der WORLD-MEDIA/IPSOS-Untersuchung auch die Bedeutung geographischer Faktoren erkennbar. Die Befragten in Polen, der Tschechoslowakei und Ungarn haben eine Präferenz für die Nachbarländer Deutschland und Österreich, weil von dort aus Pendelwanderungen oder eine periodische Heimkehr möglich sind. Das paßt zu einer Tendenz, die schon die Migrationen seit der zweiten Hälfte dieses Jahrhunderts von jenen des 19. Jahrhunderts unterschied und die sich nun weiter verstärkt: Neue und schnellere Verkehrsverbindungen und die zunehmende Erleichterung von Grenzübertritten nehmen den Migrationen einiges von ihrer ehemaligen Endgültigkeit und Dramatik. Ein Bezug zur Heimat bleibt entsprechend enger bzw. länger erhalten. Auswanderung oder Rückkehr werden in den persönlichen Biographien um einiges banaler. Immerhin jedoch ist auch die Bereitschaft zu langjähriger Migration vergleichsweise hoch. Jeder fünfte Bewohner der Tschechoslowakei und jeder vierte Pole würde für mehrere Jahre emigrieren. Bei den Russen wäre es jeder dritte. Wenn sie schon emigrieren, tun sie es mit einer größeren Endgültigkeit; sie haben ja auch die weitesten Wege. 13% von ihnen wissen schon jetzt, daß sie für immer fortbleiben würden. Unter den drei anderen Nationen war es jeweils die Hälfte. Die Furcht vor der großen Ost-West-Migration, die sich gern an hydrologischen Metaphern berauscht, wie „Fluten“ oder „Überschwemmungen“, wird durch die IPSOS-Ergebnisse weder bestätigt noch widerlegt. Ohnehin wird diese Migration wahrscheinlich mehr einer Pendelbewegung mit kleineren oder größeren Schwingungen ähneln. Sie wird sich damit von der Immigration aus der Dritten Welt grundlegend unterscheiden.
Erhard Stölting lehrt Soziologie an der Freien Universität Berlin. Er war mehrere Jahre als Osteuropa-Redakteur für die taz tätig. Stölting ist Autor des Buches „Eine Weltmacht zerbricht – Nationalitäten und Religionen in der UdSSR.
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