piwik no script img

GESTERN – HEUTE – MORGENMigration: Archetyp der menschlichen Konflikte

Migrationen haben den menschlichen Geist immer stark beschäftigt. Homers Ilias und Odyssee sind Chroniken von Migrationsbewegungen. Auf den Schauplätzen des antiken Illyrien finden auch heute wieder Migrationen statt: von Griechen und Albanern.  ■ VON ISMAIL KADARÉ

Nach dem Geheimnis des Todes, der größten Beunruhigung des Menschen, hat die Frage der Migration ihn nahezu genauso bewegt wie das Rätsel der Sprachen, der Sexualität oder des Verfließens der Zeit. Wie zu all diesen Themen gab es und gibt es bis heute auch zur Migration die unterschiedlichsten Meinungen. Wir wollen hier nicht in einer Flut von Zitaten versinken, sondern nur auf Borges' Interpretation des Mythos von Kain und Abel als ein Zusammenstoß von Seßhaften und Nomaden sowie auf die entgegengesetzte Haltung von Marx verweisen, der diesen Streit wie immer der „revolutionären Dynamik“ zuschreibt.

Die Migration nimmt einen großen Platz in den schönsten Zeugnissen der menschlichen Kultur ein. Homers Verse in der Ilias und in der Odyssee sind im Grunde nur Chroniken von zwei Migrationsbewegungen. Die erste beschreibt eine körperliche und von Gewalt geprägte Völkerwanderung nach Osten (Ilias) und die zweite eine individuelle, subtile und eher geistige Bewegung in Richtung Okzident (Odyssee). Um das Problem genauer einzukreisen, könnten wir unser Augenmerk auf das Territorium, in dem sich die antiken Tragödien abgespielt haben, und auf die entsprechenden Völker richten, die sich seit dem antiken Illyrien oder Griechenland herausgebildet haben, nämlich die Albaner und die Griechen. Ihre in jüngerer Zeit entstandenen Balladen über die Emigration aus wirtschaftlichen Gründen sind, auch wenn sie alltägliche Probleme behandeln, ebenso tragisch wie die antiken Mythen.

In einer albanischen Ballade vom Ende des 19. Jahrhunderts wird ein albanischer Wirtschaftsemigrant (hier findet sich bereits dieser, uns heute so vertraute Begriff) in die Gestalt und das Schicksal von König Ödipus gekleidet, obwohl er gerade aus New York zurückkehrt. Immer das gleiche Schema: Vater, Mutter und Sohn. Das Motiv ist die Eifersucht gegenüber der Mutter. Nur tötet diesmal nicht der Sohn den Vater, sondern der Vater bringt den Sohn um. Der Wirtschaftsemigrant, der nach zwanzig Jahren zurückkehrt, hält seinen Sohn für den Liebhaber seiner Frau und tötet ihn. Aber auch wenn das Drama in die moderne Zeit übertragen worden ist, bleibt es ebenso ernst wie in der Antike. Die Szenen, die sich im Hafen von Durres im Frühjahr 1991 abspielten, als die albanischen Flüchtlinge die Schiffe stürmten, um nach Italien zu fliehen, machen das ihnen innewohnende Drama deutlich und lassen einen erschauern.

Ist die Emigration ein Zeichen der Stärke oder der Schwäche einer Nation? Es ist extrem schwer, wenn nicht gar unmöglich, diese Frage zu beantworten. Ich meine, daß die Emigration zugleich beides belegt, Stärke und Schwäche. Es ist normal, daß eine Nation, die ein starkes Zentrum hat, auch eine starke Ausstrahlung hat.

Und zur Ausstrahlung einer Nation gehören auch die Menschen, die sie in regelmäßigen Abständen in die Welt hinausschickt. Aber wenn diese Auswanderung zu Lasten des Zentrums geht, ist das ein Zeichen der Schwächung dieser Nation, der Tendenz der Erschöpfung. Im Gegensatz zu einer ausstrahlenden Emigration, die durch ihre Vitalität die Länder belebt, die sie erreicht, ist die Migration einer geschwächten Nation armselig, ungewiß. Sie kann nur ein unglückliches Schicksal haben und somit nur das – wenn auch ein wenig verbesserte – Los der ungeliebten Ausländer früherer Zeiten wiederholen.

Es ist interessant, die Emigrationsbewegungen, die in bestimmten Ländern des Ostens kurz vor und während des Umsturzes der Diktaturen entstanden sind, mit früheren Migrationen zu vergleichen. In Albanien gab es in diesem Jahrtausend zwei tragische Migrationswellen. Die erste im 15. Jahrhundert, die zweite in den Jahren 1990-1991. Beide gingen Richtung Italien und übers Meer. Die erste wurde durch die Invasion der Türken verursacht und war ihr Prolog; die zweite durch die kommunistische Diktatur und ist ihr Epilog.

Die erste Welle bestand aus der Elite des Landes, aus den Grundherren, Bischöfen und Offizieren, die mit ihrem Gepäck, ihren Archiven und sogar mit den Glocken ihrer Kirchen flüchteten, die nicht in die Hände der Türken fallen sollten. Die letzteren waren einfache Leute, zum größten Teil arbeitlos, die nichts mitzunehmen hatten und manchmal nur in Sandalen flüchteten. Die ersteren wurden als Helden ihrer Zeit empfangen, man gab ihnen Land und Dörfer, in denen sie sich niederlassen konnten, sie wurden zu Messen und Zeremonien eingeladen. Die letzteren wurden in Kasernen gesteckt und bekamen Plastiktüten, die man normalerweise für Leichname verwendet, um sich gegen die Kälte zu schützen.

Die ersteren konnten die Sehnsucht nach ihrem verlorenen Vaterland kultivieren, ehrenvoll unter den Italienern leben und aktiv an der Geschichte ihres neuen Landes teilnehmen. Die letzteren mußten, obwohl sie von der örtlichen Bevölkerung großzügig behandelt wurden, oft bittere Enttäuschungen hinnehmen. Diese Parallele macht deutlich, daß die erste albanische Migration zustande kam, als das albanische Volk stark war. Sie drückte seine Kraft und seine Würde aus. Die zweite ist dagegen ein Beleg für seine Kraftlosigkeit und Erschöpfung nach einem halben Jahrhundert kommunistischer Diktatur.

Die Migrationen, die die Erschütterungen ankündigten, die den Kommunismus schließlich beseitigten, sind nur ein Vorspiel für die große Bewegung von Ethnien, Völkern und Volksgruppen, die in Zukunft entstehen könnte. Stehen wir an der Schwelle einer Epoche von neuen Migrationen und gibt es einen Grund, sie zu fürchten? Ich meine, ja. Die Welt ist mit neuen Exodusbewegungen konfrontiert, und man muß sich mit Recht davor fürchten. Gewohnt an den normalen Lauf der Dinge, stellen wir uns die Gefahren nur in statischer Form vor. Aber auch die Gefahren verändern sich. Auch sie bleiben bis zu dem Tag verborgen, an dem sie völlig überraschend auftauchen.

Die Verschiebungen von Menschengruppen scheinen ein ganz banales Problem zu sein, das nur zu verschärften Paßkontrollen, härteren Zollbestimmungen und heftigen Debatten in der Presse führt. Aber die Migrationen von großen Massen enthalten auch die Gefahr des Krieges. Sie sind in der Tat die Mutter des Krieges. Migrationen, langsame oder schnellere Verschiebungen von Völkern, feindliche Angriffe, schnelle Stellungswechsel, plötzliche Attacken – all das gehört zur selben Gattung, nämlich der des Krieges. So hatte Tolstoi durchaus recht, alle diese Aktionen in einen Zusammenhang zu stellen.

In der marxistisch-leninistischen Geschichtsschreibung des sozialistischen Lagers wurde die slawische Migration nach Mitteleuropa, an die Donau und vor allem auf die Balkanhalbinsel ganz idyllisch beschrieben. Man hob immer wieder den friedlichen Aspekt hervor, das mitgeführte Saatgetreide, die Setzlinge für Apfelbäume, das gute Einvernehmen mit den Völkern, die die Slawen antrafen. Das paßte sehr gut mit der zunächst von Stalin und später von Breschnew verfolgten Politik der Versklavung dieser Völker zusammen. In den großen künstlerischen Zeugnissen der Vergangeheit findet sich allerdings eine andere Sicht der Dinge. Die mittelalterlichen Heldensagen aus dem Balkan, die der Albaner und auch die der Südslawen, zeigen das Gegenteil. Diese Heldensagen triefen von Blut. Ihre Abertausende von Versen berichten davon, daß diese Migration – auch wenn sie sich über mehrere Jahrzehnte erstreckte und eine typische Völkerwanderung mit Frauen und Kindern, mit Saatgetreide und Vieh war – eine Umsiedlung von unglücklichen Völkern war, die von Massakern und anderen Greueln begleitet wurde.

Alle Migrationen von Völkern haben ein katastrophisches Element, ob sie nun durch Gewalt und Völkermord oder andere Umstände zustande kamen, ob sie von Stalin oder von Hitler – die Vernichtung des jüdischen Volkes – angeordnet wurden, ob es das Drama der Armenier, der Kosovoer, der Ungarn oder der Kurden ist. Und diese Gefahr ist heute näher als jemals zuvor.

So paradox es auch erscheinen mag: Die lange Periode des Friedens in einem Teil der Welt läßt sie nur noch deutlicher werden. Verschiedene Faktoren wirken in diese Richtung. Einer von ihnen ist seltsamerweise das Fernsehen. Die Geschichte lehrt, daß Eroberungen oder Migrationen zuerst immer durch das Auge, durch das Sehen ausgelöst worden sind. Bevor Griechenland von den Persern, Rom von den Barbaren oder Europa von den Türken angegriffen wurde, gab es an den Grenzen der angegriffenen Länder immer fremde Reisende, zerlumpte Derwische oder schattengleiche Ritter. Heute brauchen die Gruppen, bei denen die Idee zur Migration aufkommt, derartige Aufklärer nicht mehr.

Besser als von einem Streitroß oder mit dem Fernglas kann heute selbst der Nomade in der Wüste auf dem kleinen Fernsehschirm die grünen Ebenen, das ausgehungerte Vieh und die Unterdrückung der Freiheit sehen. So hat zum Beispiel das italienische Fernsehen, dessen Sendungen in Albanien leicht empfangen werden können, eine Hauptrolle beim letzten Aufbruch der albanischen Flüchtlinge gespielt. Kein natürliches Hindernis wie das Meer, weder die Polizei noch die Grenzwächter beider Länder konnten sie an ihrem Exodus hindern. Unter den heutigen Bedingungen sind die Staatsgrenzen, die Gesetze und die Behörden sicherlich ein gewisses Hindernis für chaotische Umsiedlungen. Aber wenn der Migrationswunsch zunimmt und wenn keine Maßnahmen getroffen werden, um dem vorzubeugen, kann die Welt noch böse Überraschungen erleben.

Der Golfkrieg ist einhellig als der modernste Krieg aller Zeiten bezeichnet worden. Aber dennoch, wie um uns an den Archetyp der ältesten Konflikte dieser Welt zu erinnern, hat er eines der ältesten Motive aktualisiert, nämlich die Migration eines ganzen Volkes: der Kurden. So wie der Krieg die Migration in sich birgt, enthält die Migration den Keim zum Krieg. Der Dritte Weltkrieg, den wir für gebannt halten, kann ganz plötzlich in unvorhersehbarer Weise ausbrechen.

Der Zusammenbruch der Diktaturen in vielen Teilen der Welt kann sowohl positive Energien als auch unheilvolle Kräfte freisetzen. Aus den Trümmern dieser Diktaturen können sich einflußreiche Gruppierungen erheben, die von Haß und Verzweiflung gezeichnet sind. Ebenso wie die Diktaturen können auch ganze Nationen in Stücke geschlagen werden. Und aus den Resten dieser Nationen können zahllose traumatisierte, entmutigte moderne Horden auftauchen, heimatlos, das heißt ohne Nationalität. Die Welt von morgen, ihre wohlhabendsten Teile könnten eines Tages dem Druck dieser Horden ausgesetzt sein. So wie in einem Stadtteil oder einer Vorstadt könnte die Zerstörung der Familien die Straßen mit jungen Leuten füllen, die ihrem Schicksal als Waisen, Kleinkriminelle oder Marginalisierte preisgegeben sind. Der Zerfall der Nationen in verschiedenen Teilen der Welt könnte ein analoges Phänomen hervorrufen, und das in gewaltigen Ausmaßen.

Wenn die Architekten Europas und der übrigen Welt von morgen wirtschaftliche, geopolitische, ethnische Formen für ihr Projekt suchen, sollten sie sich auch darum kümmerm, wie man diesen schrecklichen Prozeß aufhalten kann. Eine Welt, die aus Völkern besteht, die fest in ihren eigenen Territorien verwurzelt sind, wird viel freier, viel stabiler und viel kooperativer als ein neues Babylon sein. Festgefügte Nationen könnten dazu dienen, den Prozeß der Verhordung der Menschheit zu verhindern. In dieser Hinsicht würde das Wiedererstarken der nationalen Identität der einzelnen Völker der Welt nicht nur Abgrenzungen, sondern auch Vorteile bringen. Die nationalen Kraftzentren könnten heute, wenn sie von den Dämonen des Chauvinismus, des Rassismus und des Hasses befreit sind, zu den sichersten Garanten für die Verwurzelung der Völker in ihren Territorien werden. Die Schwächung und vor allem die Unterdrückung dieser Kraftzentren wäre gewissermaßen mit einer Schwächung der natürlichen Schwerkraft zu vergleichen. Das gesamte Gleichgewicht des Universums wäre erschüttert.

Ismail Kadare gilt als der bedeutendste zeitgenössische Schriftsteller Albaniens. Seit Oktober 1990 lebt er im Pariser Exil. Auf deutsch ist gerade von ihm der Roman „November einer Hauptstadt“ erschienen, der sich mit der Befreiung von der deutschen Besatzung, im November 1944, beschäftigt. (Neuer Malik Verlag)

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen