: Perfider Konflikt
■ Jeder Arbeitsplatz weniger in der ostdeutschen Chemie ist ein ökologischer Gewinn
Perfider Konflikt Jeder Arbeitsplatz weniger in der ostdeutschen Chemie ist ein ökologischer Gewinn
Es hat lange gedauert, bis Gewerkschaften und Unternehmer in Westdeutschland den unseligen Widerspruch zwischen Wirtschaft und Umweltschutz, zwischen den sozialen und ökologischen Interessen zugunsten eines „Sowohl als auch“ beerdigt haben. Während noch Anfang der achtziger Jahre mit dem Argument gegen die Ökologiebewegung zu Felde gezogen wurde, zu weit getriebener Umweltschutz gefährde Rentabilität und damit Arbeitsplätze, gilt seit einigen Jahren die ökologische Modernisierung der Industrie, das „qualitative Wachstum“ als beste Sicherung gegen drohende Arbeitsplatzverluste. Erst diese aus dem westdeutschen Kontext heraus entwickelte Integration ökonomischer und ökologischer Motive zu einem neuen industriellen Entwicklungsmodell bildete die Grundlage für jedwede „rot-grüne“ Politik im wirtschaftlichen und politischen Bereich. Ihre Voraussetzung ist allerdings eine hochentwickelte, im Weltmaßstab konkurrenzfähige Produktionsstruktur, die ohne Produktivitätsverlust nach ökologischen Kriterien optimiert werden kann.
All diese Voraussetzungen sind bei einem großen Teil der Industrie in den neuen Ländern nicht gegeben. Insbesondere für die Chemieindustrie in der Region Bitterfeld, Leuna, Merseburg gilt fast ausnahmslos: Jeder stillgelegte Arbeitsplatz beinhaltet eine dringend notwendige Entlastung der Umwelt. Je radikaler die Schrumpfkonzepte der Treuhand ausfallen, desto besser wäre das eigentlich für die Menschen, die in dieser Region leben — wenn sie nicht gleichzeitig ihre Arbeitsplätze und damit oft genug ihre Lebensperspektive verlieren würden. Der Realsozialismus hinterließ einen perfiden Konflikt, der auf absehbare Zeit durch noch so gute strukturpolitische Überbrückungskonzepte nicht auflösbar ist: gesellschaftlich den Konflikt zwischen Umweltsanierung und Arbeitsplätzen; individuell den zwischen Gesundheit und Existenzsicherung.
Die Industrie kann ihre Rolle in diesem Konflikt leicht finden. Für sie zählt letztlich das Kriterium der betriebswirtschaftlichen Rentabilität. Jede Investition in die maroden Chemiestandorte in den neuen Ländern, auch wenn sie auf hohem ökologischen Niveau erfolgt, muß zumindest mittelfristig diesem Maßstab standhalten. Die Politik und die Gewerkschaften haben es da schwerer, weil sie es nicht mit Zahlen, sondern mit den Menschen zu tun haben. Gerade weil jede verantwortliche Industriepolitik in den Chemieregionen Ostdeutschlands zu hohen Arbeitsplatzverlusten führt, müssen Politiker und Gewerkschaften nach sozialen Perspektiven suchen. Dies ist eine kaum zu lösende Aufgabe. Denn in der Industrie Ostdeutschlands, in der Chemieindustrie allemal, gibt es kein „qualitatives Wachstum“. Die „qualitative Schrumpfung“ ist noch die beste aller denkbaren Möglichkeiten. Lösungswege müssen also außerhalb der Sphäre der Produktion gesucht werden. Martin Kempe
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