: Chance für einen Neuanfang
■ Rußland wählt erstmals einen eigenen Präsidenten. Die Ausgangslage ist paradox: Gorbatschow muß hoffen, daß sein Erzfeind Jelzin gewählt wird.
Chance für einen Neuanfang Rußland wählt erstmals einen eigenen Präsidenten. Die Ausgangs- lage ist paradox: Gorbatschow muß hoffen, daß sein Erzfeind Jelzin gewählt wird.
Aus Moskau Klaus-Helge Donath
ie Szene war verworren und unübersichtlich. Noch im Februar dieses Jahres verlangten die orthodoxen Kommunisten der Russischen Föderation (RSFSR) einen außerordentlichen Kongreß der russischen Volksdeputierten. Auf der Sondersitzung wollte man dem radikalen Widersacher Gorbatschows, Boris Jelzin, endgültig die Flügel stutzen. Nach dem Terraingewinn der politischen Rechten seit Jahresbeginn deutete auch vieles auf ein Gelingen hin.
Kurz danach drehte sich der Wind. Statt von der politischen Bühne zu verschwinden, gelang es Jelzin, auf dem außerordentlichen Volksdeputiertenkongreß die Forderung nach einem Präsidentenamt in der RSFSR auf die Tagesordnung zu hieven.
Das radikaldemokratische Spektrum verspricht sich davon — außer einer Stärkung Rußlands gegenüber dem Zentrum — vor allem, der paralysierten Exekutivgewalt des Landes neue Impulse geben zu können. Im Mai besiegelte der Vierte Volksdeputiertenkongreß diesen Wunsch mit einer Verfassungsänderung.
Zum ersten Mal in ihrer Geschichte wählt die größte Republik der UdSSR heute einen eigenen Präsidenten und mit aller Wahrscheinlichkeit wird er Boris Jelzin heißen. Die Russische Kommunistische Partei (RKP) unternahm noch einen Versuch, den Wahltermin auf den Herbst zu verschieben in der Hoffnung, ihr weiteres Umfeld bis dahin für die Wahlschlacht mobilisieren zu können. Der Vorstoß versandete. So ganz wollten sich die strammen Kommunisten aber doch nicht mit ihrer neuen Schattenrolle abfinden. Aus taktischen Überlegungen zögerte sie lange, ihren Kandidaten zu benennen. Jetzt geht Nikolai Ryschkow, der ehemalige Premier der UdSSR, für sie ins Rennen.
Unter den sechs Bewerbern rangieren jedoch noch zwei weitere Parteimitglieder. Offiziell fahren sie nicht auf dem „Ticket“ der Partei. Ihre ideologische Heimstatt ist sie aber allemal. Wadim Bakatin, ein eher gemäßigter Kandidat, diente Gorbatschow bis Dezember '90 als Unionsinnenminister. Nach Protesten der Hardliner entfernte ihn sein Chef aus dem Amt. Bakatin war mit den Sonderinteressen der anderen Republiken zu nachsichtig umgegangen. Er verkörpert noch das kleine Häuflein in der KPdSU verbliebener Zentristen.
Schon auf dem 28. Parteitag der KPdSU profilierte sich General Albert Makaschow. Der Provinzgeneral aus dem unteren Wolga-Gebiet machte sich zum Fürsprecher aller unzufriedenen Militärs. Mit der „ideologischen Kapitulation“ vor dem Kapitalismus, donnerte er damals, werde sich die Armee nie abfinden. Er war es, der den Gerüchten eines bevorstehenden Militärputsches immer wieder Vorschub leistete. Seine Wahlplattform — schon das ist eigentlich ein Euphemismus — beschränkt sich auf Absichtserklärungen zur Runderneuerung des Sozialismus. Ansonsten spielt er eher stümperhaft auf der Klaviatur des russischen Patriotismus.
In diesen Kreis gehört auch Wladimir Schirinowski. Er steht einem Verein mit dem irreführenden Namen Liberaldemokratische Partei vor. Über Stärke und Mitglieder dieser Vereinigung weiß man nur wenig, dafür um so mehr über die flammende Liebe ihres Vorsitzenden zum KGB. Keiner dieser Anwärter glaubt wohl ernsthaft an einen Wahlsieg. Ihre Pflicht hätten sie schon erfüllt, wenn sie die erforderliche absolute Mehrheit Jelzins im ersten Wahlgang verhindern.
Wiederauftritt des heulenden Bolschewiken
Ryschkow zählt zu den Favoriten des einflußreichen militärisch-industriellen Komplexes. Bevor er in die Politik ging, leitete er die große Waffenschmiede des Landes „Uralmasch“ in Swerdlowsk. Die Bürger kennen ihn noch gut aus seiner Zeit als sowjetischer Premier, in der er die fehlgeschlagenen Wirtschaftsreformen zu verantworten hatte. Sie erinnern sich auch noch lebhaft an seine Fernsehauftritte. Die nutzte er regelmäßig dazu, über die Bürde seines schweren Amtes zu klagen. Prompt verpaßte ihm der Volksmund den Spitznamen „heulender Bolschewik“.
Im Wahlkampf baute er vor allem auf Stimmen aus der Provinz und der Landwirtschaft. Er nahm scharf gegen die von den Reformern in Rußland geplante Privatisierung der Kolchosen und Sowchosen Stellung. Den Bürgern versprach er, sie von einer polnischen „Schocktherapie“ zu verschonen. Auch Bakatin ist ein Mann der Nomenklatura, aber geschickter als seine Opponenten. Er baute auf das Image eines besonnenen noch unverbrauchten Politikers, der nicht viel verspricht — nur die Quadratur des Kreises: Das Alte behutsam mit dem Neuen zu verknüpfen. Ryschkow und er werden sich gegenseitig Stimmen streitig machen.
Zu seinem Vize bestimmte Ryschkow den stellvertretenden Innenminister Boris Gromow. Der 46jährige Kommandeur leitete den Abzug der Sowjetarmee aus Afghanistan. Ansonsten empfahl er sich als Reformgegner und Vertreter von Law and Order.
Jelzin griff seinerseits auf einen Afghanistan-Veteranen zurück. Mit der Ernennung des Piloten Alexander Rutskoi will er ein Wählerspektrum mobilisieren, das bisher nicht zu seiner Stammbelegschaft gehörte. Rutskoi ist ein charismatischer Politiker, der kürzlich innerhalb der KP Rußlands die Fraktion „Kommunisten für Demokratie“ gründete. Im März vereitelte er den Versuch seiner stahlharten Parteigenossen, Jelzin als Vorsitzenden des Obersten Sowjets auszuhebeln. Ungeachtet der wahlarithmetischen Überlegungen ist auch Jelzin einen Kompromiß eingegangen. Wäre es nämlich nach dem Willen der oppositionellen Sammlungsbewegung „Demokratisches Rußland“ gegangen, die Jelzin zu ihrem Kandidaten erhob, wäre einer ihrer anderen Gallionsfiguren nominiert worden.
Ein Zeichen der Zeit: Seit der Unterschrift unter den „Neun-plus-Eins-Vertrag“ im April zwischen acht Republiken und dem Zentrum scheint sich die Einsicht durchzusetzen, daß das Tauziehen keiner der Seiten zuträglich ist. Und Gorbatschow mußte wohl oder übel das Fehlschlagen einer Strategie eingestehen, mit der er seit letztem Herbst versuchte, die Omnipotenz des Zentrums noch einmal zu retten. Auf der Regierungsdatscha Nowo-Ogarjewo einigten sich die Parteien, bis zum Jahresende ein Aktionsprogramm vorzulegen, das den Übergang zur Marktwirtschaft einleitet, gleichzeitig aber Sorge trägt für den Erhalt eines einheitlichen Wirtschaftsraumes. Zudem erhielten die Republiken die Zusage, die meisten Reformmaßnahmen in Eigenregie durchführen zu können. Bei der Unionsbürokratie, dem Militär und dem KGB, die darin das endgültige Ende der Union gewahren, stieß Gorbatschows Kompromiß nicht auf Gegenliebe. Im Gegenzug gebot Jelzin den streikenden Bergarbeitern Einhalt, die Gorbatschows Rücktritt forderten und ersparte dem Präsidenten so das Schicksal General Jaruzelskys.
Die Rivalität zwischen Gorbatschow und Jelzin ist erst einmal ausgesetzt. Wohlweislich hat sich der Unionspräsident in den Kampf um die russische Präsidentschaft nicht eingemischt. Mehr denn je ist sein Schicksal mit der Person Jelzins verknüpft.
Paradox: Will Gorbatschow den neuen Unionsvertrag im Juli noch unter Dach und Fach bringen, muß er sogar auf den Sieg seines Erzrivalen hoffen. Die Zeiten von Perestroika und Gegenperestroika sind vorüber. Die Chance für einen Neuanfang ist da. Aber lange wird sie nicht vorhalten.
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