: Jüdische Gemeinden befinden sich in der Krise
■ Die oppositionelle Demokratische Liste lud zur Problembenennung Michel Friedmann aus Frankfurt ein/ Orientierungslosigkeit
Charlottenburg. Nur 150 Menschen waren am Dienstag abend in die Jüdische Gemeinde gekommen, um einen Insider über die Probleme vieler Juden sprechen zu hören. Die oppositionelle Demokratische Liste hatte Michel Friedmann, Kulturreferent und Pressesprecher der Jüdischen Gemeinde in Frankfurt und Mitglied im Zentralrat der Juden in Deutschland, eingeladen, um über das zu reden, was in Berlin nur hinter vorgehaltener Hand gewispert wird. Die Jüdischen Gemeinden in Deutschland befänden sich in einer Sackgasse ohne Zukunft, seien orientierungslos, und ihre gesellschaftliche Bedeutung im öffentlichen Leben marginal. Die geringe Teilnehmerzahl deutete allerdings darauf hin, daß der Leidensdruck in Berlin so groß, wie von oppositionellen Juden oft geäußert, nicht sein kann.
Michel Friedmann, Rechtsanwalt und CDU-Stadtverordneter in Frankfurt, ist ein eloquenter Mann und mit 35 Jahren einer der jüngsten Repräsentanten des jüdischen Lebens in Deutschland. Er gehört nicht zur Opposition und ist denoch ein Oppositioneller. Noch nie, sagt er, gab es so viele Juden in der Bundesrepublik wie heute, und noch nie waren die Probleme so groß. Die Inhalte, und Friedmann meinte damit die Traditionen, der Glaube, die Solidarität untereinander und die Streit- und Dialogfähigkeit, seien zu leeren Hülsen verkommen. Die Führungen der Jüdischen Gemeinden lebten in der Vergangenheit, würden ein Erbe verwalten, aber die Zukunft nicht sehen wollen. Denn: Die zweite und dritte Nachkriegsgeneration wüchsen ohne eine jüdische Identität auf, und das Wissen über ihr Volk und dessen Geschichte sei nicht mehr vorhanden. 40 Prozent der jungen Juden in Deutschland hätten laut einer Statistik von 1985 nichtjüdische Ehepartner, die Kinder wiederum würden ohne Bezug zum Judentum aufwachsen. Die Gemeinden, kritisierte Friedmann, seien nicht in der Lage, dieses Problem überhaupt zu diskutieren.
Auf die Tagesordnung gehöre, so Friedmann, auch eine neue Positionsbestimmung zu Deutschland. Die Zeit, in der die Juden meinten, in Deutschland nur provisorisch zu leben, sei endgültig vorbei. Zunehmend mehr junge Juden, vor allem in den kleineren Gemeinden, seien auf eine »selbstverständliche« Weise loyal gegenüber Deutschland geworden, würden gar ihren Dienst in der Bundeswehr ableisten — eine Vorstellung, die die älteren Menschen entsetze. Friedmann kritisierte ebenfalls, daß viele Gemeinden hofften, ihren Mitglieder- und Substanzverlust durch den Zustrom von Juden aus der Sowjetunion aufzuhalten. Die Zuwanderer seien willkommen, sagte er, aber die Gemeinschaft müsse nicht von außen stabilisert, sondern von innen aktiviert werden. Die jüdische Gemeinschaft habe in Zukunft nur dann eine Chance, wenn die Führung verjüngt, verbreitert und professionalisiert werde und vor allem, wenn endlich eine »offene Gemeindearbeit« stattfinde. Die Opposition — und hier zeigte sich die Jüdische Gruppe äußerst erfreut — dürfe nicht ausgegrenzt werden. Auch extreme Positionen zu Israel müßten ihren Platz in der Gemeinde haben. Meinungsunterdrückung und Sanktionen gegen Tabuverletzungen sollten der Vergangenheit angehören. Es sei ein riesiger Fehler gewesen, meinte Friedmann, daß in den siebziger Jahren die linke und kritische Intelligenz aus den Gemeinden gedrängt worden sei. aku
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