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Anarchie in Wimbledon

Tennis am heiligen Sonntag: Grauenhaftes Sakrileg bei den All England Championships  ■ Aus Wimbledon Michaela Schießl

Was ist passiert, wenn Tausende von Briten nachts um zehn Uhr säuberlich den Schlafsack auf dem Gehsteig ausrollen, dem Nachbar höflich „sleep well“ wünschen und sich ablegen? Nein, weder eine Wohnungsbesichtigung noch die Ausgabe von Arbeitslosengeld. Die Sache ist viel ernster: Es gibt Karten für Wimbledon. Denn der vier statt wie gewöhnlich zwei Tage anhaltende Regen hat geschafft, was weltweit als undenkbar galt: Ein britisches Ritual kippt: Erstmals in der sagenumwobenen Geschichte des Tennisturniers wird — Teufelswerk — am mittleren Sonntag gespielt. Bis zur letzten Minute haben sich die Organisatoren diesem Gedanken widersetzt, öffnet sie doch der Anarchie Tür und Tor. Doch wer am Samstag noch Zweitrundenmatches spielt, dem hilft kein Traditionsbewußtsein.

Einzig die Fans sind selig. Am gefährlich bewölkten Sonntag wurden die Tickets frei verkauft nach dem Prinzip „First comes first“. Dies also ist der Grund für die seltsame Ansammlung von Kokons auf den Britensteigen. Auch die vom Regen betrogenen Karteninhaber wurden nicht bevorzugt: „Dann kommt es zum Stampede, aber wir haben nur für 25.000 Menschen Platz“, ängstigte sich Manager Chris Gorringe und bat die Londoner eindringlich, daheim zu bleiben.

Die aber taten den Teufel. Spätestens seit Samstag metamorphiert das Empire vor lauter Begeisterung langsam aber sicher zu einem Tennisball. Denn einer der ihren, Nick Brown, schlug einen der Großen, Goran Ivanisevic: Nummer 591, per „Wild Card“ und auf einer Harley Davidson zur Zeremonienstätte geknattert, schlug Nummer neun: „Es hat Spaß gemacht. Ich hatte Chancen und nahm sie wahr“, frohlockte der 30jährige nach seinem 4:6, 6:3, 7:6, 6:3-Sieg über den jugoslawischen Chefaufschläger. Der Brite hatte wegen Erfolglosigkeit von 1984 bis 89 nur noch als Trainer gearbeitet.

Mit flatternden Nerven verlor ein weiterer „Mitfavorit“ (Boris Becker): US-Open-Sieger Pete Sampras ging gegen seinen amerikanischen Landsmann Derrick Rostagno baden. Beckers Erkenntnis: „Da, äh, lag ich wohl falsch.“ Er selbst spielte gegen Charly Steeb solide, aber großherzig wie ein Bruder. Halbe Kraft voraus, um den Freund nicht zu demütigen. Und mußte er wirklich einmal hart hinlangen, ließ er vor Scham gleich eine Übersprungshandlung folgen: Mit Balljungen sprechen, an den Schuhen fummeln. Boris Löwenherz. Charly hingegen kämpfte wie ein Löwe und eilte gar furchtlos ans Netz. Nichts half. Er verlor 6:4, 6:2, 6:4. Gegen Peter Lundgren (Schweden) schaltete Becker dann einen Gang höher: „Das war ein guter Test, ich mußte richtig gut Tennis spielen“, befand er gut gelaunt nach dem 7:6, 7:5, 7:5-Sieg. Sein Titeltip: Edberg, Lendl oder Becker. Michael Stich sähe er nicht ganz vorne.

„Mir ist egal, wo Boris mich sieht“, sprach Stich, der sein Zweitrundenmatch gegen den Italiener Diego Nargiso 6:3, 6:4, 6:7, 6:4 gewann. Gleiches tat der gefeierte John McEnroe. Der dreifache Wimbledon-Sieger entnervte Sandon Stolle, den Sohn des dreifachen Wimbledon-Finalisten (1963 bis 1965) Fred Stolle, mit 7:5, 5:7, 6:0, 7:6, wobei bei genialem Spiel nur ein einziger heftiger Wutanfall und höchsten vier Schlägerentledigungen zu vermelden sind. Wimbledon-Sieger Pat Cash flog mit einer Vielzahl verständlicher Schreianfälle im fünften Satz unglücklich gegen Thierry Champion (Frankreich) raus — beim Stand von 12:10, da in Wimbledon im letzten Satz kein Tiebreak gespielt wird. Auch Michael Chang verabschiedete sich denkbar knapp in fünf Sätzen gegen Tim Mayotte. Kleiner Trost: Nun kann er wenigstens am Sonntag wie gewohnt in die Kirche.

Bei den Frauen verliefen die Vorrunden zwecks starker Klassenunterschiede noch ohne heftiges Favoritinnenausscheiden. Steffi Graf eilte sich 6:0 und 6:1 gegen Frau Harper, Anke Huber warf Tami Whitlinger 6:2, 6:1 aus dem Rennen. Die 16jährige hatte im Gegensatz zu den meisten ihrer Kolleginnen, die zu viert täglich eine halbe Stunde auf Gras üben dürfen, stundenlang auf Rasen trainiert: Ihr Coach Boris Breskvar tat im eineinhalb Stunden entfernten Wentworth eine Rasenanlage auf: „Dort konnten wir bei jedem Wetter spielen, der Groundsman ist ein großer Anke-Fan. Aber peinlich ist es schon, wie die Plätze jetzt aussehen.“ Doch vielleicht können die deutschen Tennisspieler bald daheim üben: Die Boris-Stadt Leimen — mit Vater Becker als Baurat — sinniert über die Erstellung zweier Rasenplätze. Ohne den aristokratischen Touch allerdings. Huber: „Wimbledon ist schon das Größte. Nur mit dem Snobismus, da bin ich nicht so dafür.“

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