: Bocksprünge über Vogelnester im Wind
■ Timo Kahlen in den Kunst-Werken-Berlin
»Woher kommt der Wind? Wer verband Schnelligkeit mit Luft und Wolken?« fragt der Schüler seinen Meister im Rätselwettstreit des altindianischen Epos Athavaveda. Der weise Gelehrte wußte keine Antwort, aber der darauffolgende Disput markiert eine der Wurzeln philosophischen Erkenntnisstrebens und den Ausgangspunkt für die ewige und ewig vergebliche menschliche Annäherung an das weltenschöpfende Prinzip.
Von solcherlei Schwachheiten unangefochten zeigt Timo Kahlen derzeit vier neue »Arbeiten mit Wind« in den Räumen der Kunst-Werke Berlin e.V.. Bei Kahlen kommt der Wind aus der Steckdose, und Paraphrasen der Naturgewalt hat er dabei (dankenswerterweise) nicht im Sinn. Für ihn bedeutet »Wind« nicht in erster Linie Mysterium, sondern Arbeitsmittel, ein plastisch formbares Material, dessen Volumen gestaltet, gerichtet und beschnitten werden kann. An diesem »Windvolumen« interessiert Kahlen dessen innere Bewegtheit, seine Lebendigkeit und unerschöpfliche Veränderbarkeit — allesamt Eigenschaften, den in der gleichzeitigen Unsichtbarkeit des »Materials« bewegte Luft ein herber Kontrapunkt gegenüber steht. Dieses Spannungsfeld, der Sprung vom faktisch Ungegenständlichen zum plastisch Formenden, bedeutet Kahlen den Wert, der ihn immer neue Nutzungsmöglichkeiten für Windmaschinen finden läßt.
Hat man sich erst einmal in dieses Spannungsfeld eingesehen und betrachtet man seine Arbeiten unter formalen, phänomänologischen Gesichtspunkten, so haben die Stücke durchaus ihren Reiz — ob man nun Kahlens Begrifflichkeit als besonders gelungen empfindet oder nicht. Die an der Decke aufgehängten Ventilatoren, welche allein durch ihren Windausstoß aus der Lotrechten gedrückt werden, zeigen tatsächlich und paradoxerweise etwas, das man nicht sehen kann.
Dennoch beschreitet Kahlen, gewollt oder ungewollt, einen inhaltlich schmalen Grat. Verläßt man nämlich das Feld der rein formalen Anschauung und weist man, wie es der Philosoph Vilem Flusser in seinem Begleittext zu der Ausstellung tut, »dem, was man nicht sehen kann« den Begriff des Immateriellen, Unfaßbaren, des ehemals göttlich Genannten zu, so bringt man Kahlen in beträchtliche Schwierigkeiten. Es würde eine Aura kreiert, an der dem Künstler nicht gelegen sein kann. Indem man Kahlen zuschriebe, das Unfaßbare zu gestalten — was nichts anderes heißt, als es zu beherrschen und als Eingeweihter darüber Auskunft geben zu können — stellte man ihn und seine Arbeiten einem Anspruch, an dem beide zwangsläufig scheitern müssen.
An der theoretischen Unschärfe, mit der Kahlen seine Arbeiten begleitet, macht sich auch der nächste Kritikpunkt fest. Hätte Kahlen auf die Texte verzichtet, ihm wäre wenig verloren gegangen. So aber müssen die ausgestellten Stücke an den mitgelieferten Formulierungen gemessen werden. Da ist die Rede vom heute so beliebten Raumbezug, davon, daß Wind als plastisches Material eine äußere Bewegung, eine Präsenz in den Raum hinein besitze, daß sich die Arbeiten dem gegebenen Raum anpassten und ihn gleichzeitig benutzten. Daß Wind als plastisches Material, so wie Kahlen ihn versteht, auch raumgreifend wirkt, wird jedem schnell einleuchten, der in sommericher Kleidung vor den Ventilatoren umhergeht, und die Abweichung aus der Lotrechten kann natürlich ebenso nur im Raum entstehen. Von einem unbedingten und eindeutigen Raumbezug kann man allerdings daraufhin nicht sprechen. Zwar benötigen Kahlens Arbeiten einen Umraum, der aber ist nicht exakt festgelegt. Kahlen füllt den Raum, versieht dessen Gestalt jedoch nicht mit ausschließlicher Notwendigkeit. Man könnte etwas hinzufügen oder abziehen, ohne daß dadurch das Kunstwerk in seiner Konstituierung getroffen wäre. Eigentlich schade, denn ein Blick in die ausgelegten Kataloge zeigt, daß Kahlen Räume kompromiloser zu gestalten versteht.
Überhaupt liegen die Stärken der Ausstellung dort, wo sich Kahlens Vorliebe für die Kombination von Gegenständen so augenfällig und eindeutig zeigt, daß theoretische Überlegungen von vornherein in den Hintergrund treten, wie bei dem mächtigen Industrieventilator, der unter quälendem Geräusch und mit blindwütiger Kraft einem Kubikmeter pro Sekunde durch einen hermetisch abgeschlossenen Glaskasten jagt. Und mit den Vogelnestern, die ohnehin nur unter geistigen Bocksprüngen in den Prozeß des »Arbeitens mit Wind« eingegliedert werden konnten, hat Kahlen einen Ausgangspunkt gefunden, an dessen Suggestions- und Symbolkraft man nicht so leicht vorbeikommt — so spontan erzählen die verlassenen Nester die Geschichte schrecklicher Ereignisse, von vergangenem Glück, von Flucht und Tod. Ulrich Clewing
bis 14.7., Auguststr. 91, 1040, Di-So 16-20 Uhr
taz lesen kann jede:r
Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen