KOMMENTAR: Vor Jahr und Tag
■ Reminiszenz an eine untergegangene Verfassung
Heute vor einem Jahr schritt die längst verflossene Stadtverordnetenversammlung von Ost-Berlin zu ihrer größten Tat: Als erste einem Länderparlament vergleichbare Institution der ehemaligen DDR gab sie sich eine eigene demokratische Verfassung. Diese Verfassung wurde zwar von den Politikern im Westteil der Stadt Zeit ihrer Gültigkeit mitleidig belächelt, war aber trotz ihrer Mängel höchst modern. Grundgedanken des Umbruchs in der DDR wurden in Verfassungsrang erhoben, und kommunales Ausländerwahlrecht, weitgehende Mitspracherechte für die Bürgerbewegungen und eine Fristenregelung fanden letztlich Unterstützung von allen Fraktionen.
Die Verfassung von Ost-Berlin blieb, wie Regierung und Parlament, ein Kind des Übergangs. Ihr Außerkrafttreten war für den Tag der konstituierenden Sitzung eines Gesamtberliner Parlaments festgeschrieben. Genau ein halbes Jahr nach der Verabschiedung, am 11. Januar 1991, trat das neugewählte Abgeordnetenhaus in der Nikolaikirche zusammen. Die Verfassung von Ost- Berlin verstaubt seither in den Schubladen. PDS und Bündnis 90 drängten zwar bis zuletzt auf eine Verfassunggebende Versammlung, um den Neuanfang zu markieren. Mit CDU, SPD und FDP war das jedoch nicht zu machen: Die Westberliner Verfassung wurde mit wenigen Änderungen und den Stimmen der jeweiligen Ost-Abgeordneten auf ganz Berlin erstreckt — mit dem Auftrag, sie in dieser Legislaturperiode zu überarbeiten. Die entsprechende Enquete-Kommission wird von den schwarz-roten Koalitionsparteien ausgesessen. Der parlamentarische Auftrag ist so verwässert, daß von den emanzipatorischen Momenten der Ostberliner Verfassung nichts übrigbleiben wird. Während sich das Nachbarland Brandenburg derzeit die modernste Landesverfassung der neuen Bundesrepublik gibt, ist in Berlin das Interesse an einer Verfassungsreform denkbar gering. Begründung: Berlin habe wichtigere Probleme. Wohl wahr — die Chance des Neuanfangs und einer ernstgemeinten Reform des verkrusteten Parteienparlamentarismus wurde dennoch verspielt. Kordula Doerfler
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