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Schwule wehren sich jetzt gewaltig

■ 648 Opfer antischwuler Gewalt in einem Jahr/ Schwule Selbsthilfe mit Telefon, Knüppeln und Reizgas/ Innenverwaltung boykottiert Polizistenseminare, die Vorurteile abbauen sollen

Berlin. Antischwule Gewalt: 648 Opfer innerhalb eines Jahres wurden von der Projektgruppe »Gewalt gegen Schwule« gezählt, darunter acht Vergewaltigungen und fünf Anschläge auf schwule Einrichtungen.

Seit Juli 1990 betreiben die 25 ehrenamtlichen Mitarbeiter des Projekts ihr »Überfalltelefon« in dem Schwulen-Informationsladen »MannoMeter«. Sie dokumentieren Straftaten, betreuen die Opfer und konzipieren vorbeugende Aktionen. Pünktlich zur internationalen Fachtagung »Gewalt gegen Schwule und Lesben«, die gestern nach drei Tagen im Ostberliner »Haus am Köllnischen Park« zu Ende ging, präsentierte das Projekt seine Zahlen.

Danach erleiden 39 Prozent der Gewaltopfer leichte oder schwere Körperverletzungen, 35 Prozent stehen nach der Tat unter Schock und leiden unter schweren Angstzuständen. Nur 17 Prozent kommen mit einem leichten Schrecken davon. Die Täter treten in 75 Prozent aller Fälle in Gruppen auf, die Hälfte von ihnen ist zwischen 15 und 23 Jahre alt. Etwa 50 Prozent der Täter gehören — wie ihre Opfer — einer Minderheit an: sie sind Ausländer.

69 Prozent der Opfer erstatten keine Anzeige, sie fürchten den Gang zur Polizei. Viele trauen sich auch nicht zu MannoMeter. Die Macher befürchten daher eine zehnmal so hohe Dunkelziffer von Überfällen.

Die Vorstellungen der »Schwulenticker« seien immer dieselben, erzählt Bastian Finke, Sozialarbeiter bei MannoMeter: »Schwule wehren sich nicht, Schwule werden von der Gesellschaft geächtet, Schwule gehören ausgerottet.« Viele Opfer hätten tatsächlich das Gefühl, die Polizei stünde auf der Seite der Täter, so Finke. Sie träfen sich daher viermal im Jahr mit Vertretern der Polizei, um diese Situation zu verändern.

Im August plante die »Schwulen- und Lesbenberatung Kulmerstraße« dazu ein dreitägiges Info-Seminar. Nachdem sich bereits 24 PolizistInnen aus dem mittleren Dienst angemeldet hatten, vereitelte die Innenverwaltung das Vorhaben in letzter Minute. Angeblicher Grund: Die nötigen Gelder von 5.000 DM seien leider nicht verfügbar. Doch als Sponsoren und auch Jugendsenator Thomas Krüger das fehlende Geld zur Verfügung stellen wollten, blieben die Veranstalter hart: »Das ist eine Schulung für die Polizei, deshalb sollen die auch zahlen«, meint Andrea Trogisch von der »Kulmerstraße.«

»Dies ist eine historische Chance. Die Schwulen- und Lesbenbewegung hätte bei diesem ersten Mal über ihren Schatten springen sollen«, meint Kriminalkommissar Heinz Uth, 56, heterosexuell und seit Oktober 1990 Schwulen- und Lesbenbeauftragter der Berliner Polizei. Die Polizeiführung nehme ihn inzwischen sehr ernst: »Ich war noch nie so oft beim Landeskriminaldirektor wie im vergangenen Jahr«, so Uth. Für seine neue Tätigkeit sei ihm ein Assistent bewilligt und außerdem eine zusätzliche Telefonleitung eingerichtet worden, das »Rosa Telefon«, so der Kollegenspott.

»Die Berliner Polizei ist heute einfach noch nicht so weit«, bekennt Uth. »Wir sind eben kein Spiegel der Gesellschaft, eher ein blinder Spiegel.« Lesbischen und schwulen PolizistInnen, die sich — wie bereits geschehen — bei Uth mit ihren Problemen offenbaren, rät er nach wie vor, ihre Neigung im Dienst zu verheimlichen. »Die haben sonst riesige Probleme, gerade im aktiven Einsatz. Ich bin schon sehr froh, wenn ich sie überzeugen kann, den Dienst nicht zu quittieren.«

»Das Gewaltmonopol muß bei der Polizei bleiben«, so Uth mit Blick auf die »schwule Telefonkette«, einem Berliner Alternativprojekt, in dem Schwule das Gewaltproblem buchstäblich auf eigene Faust und vor allem ohne die Polizei lösen wollen. »Die Polizei kann uns nicht effektiv schützen, und viele von uns haben auch keine Lust auf die Polizei«, meint Bernd von der AG »Dicke Lippen«. Dort treffen sich alle zwei Wochen Schwule, die sich sonst eher nichts zu sagen haben: Autonome, MannoMeter-Bewegte und kommerzielle Kneipiers. Sie alle beteiligen sich an einer Notruf-Telefonkette: wird es irgendwo brenzlig, reicht ein Anruf bei einer der acht »Hauptvernetzungsstationen«, und schon kommt die Gegenaktion lawinenartig ins Rollen, schwule Schutztruppen eilen dann zum Ort der Randale, bewaffnet mit Knüppeln, Reizgas und Trillerpfeifen. Wenn Worte versagen, soll im Notfall Gegengewalt angewandt werden.

Bernd: »Die Täter müssen kapieren, daß sie bei uns nicht mehr ein einfaches Spiel haben, daß wir uns organisieren und wehren — und zwar über alle ideologischen Gräben hinweg, sowohl Autonome als auch Diskohuschen. Wenn sich die Schwulen immer nur ängstlich auf die Polizei verlassen, ändert sich ihr Image nie.« Marc Fest

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