piwik no script img

DEBATTEBomben auf Dubrovnik

■ Die Schuld Europas am Bürgerkrieg in Jugoslawien

Dubrovnik wird bombardiert.“ — Vor Monaten, als in Slowenien der erste Schritt in den Bürgerkrieg gemacht wurde und zugleich die bedrohliche Fähigkeit des neuen vereinten Europas, das Unerträgliche zu ertragen, offenbar wurde, habe ich mich gefragt, wo eigentlich die Schattenlinie liegt. Was muß passieren, um Europa erwachsen zu machen? Wann wird es erkennen, daß in Jugoslawien die europäische Zivilisation selbst zur Disposition steht? Es war nie das Problem der offenen Augen. Wer auf der europäischen Ferienautobahn im Stau stand, hörte ja, daß an einem Ende der Autobahn Bomben fielen. Schon im letzten Jahr wurde von einem europäischen Libanon gesprochen. Peter Glotz warnte im Frühsommer vor einem „kleinen Bürgerkrieg“.

Aber all die wackeren Antinationalisten und Apologeten der europäischen Integration, die mit merkwürdiger Sicherheit im Strich das Bürgerkriegsszenario entwarfen, machen mich wütend. Ihre Sorge um die moralische Reputation bewirkt, daß letzten Endes nichts passiert. Es kommt mir so vor, als werde — mit den Formeln Bürgerkrieg, Libanon, Genozid — eher ein Cordon sanitaire der Begriffe aufgebaut, der die verhaßte Realität außen vor lassen soll. Die Leidenschaft des Engagements sprach und spricht da nicht heraus.

Die Frage also, was muß geschehen, damit sich die beschworene zivile Gesellschaft im europäischen Haus ihrer Kräfte erinnert? Die Mechanik der Bürgerkriegslogik lag mit unüberbietbarer Klarheit vor den Augen der europäischen Öffentlichkeit: Angriff der Tschetniks, Reaktion der Kroaten, Vormarsch der Armee, europäische Verhandlungsrunde, Beschluß des Waffenstillstands, Erklärung der Bürgerkriegsparteien, Angriff der Tschetniks und die nächste Drehung der Schraube. Die europäischen Krisenbewältigungsmechanismen und Institutionen haben nicht im Bürgerkrieg interveniert, sondern der Bürgerkrieg interveniert in den europäischen Institutionen. In nur wenigen Monaten machte der jugoslawische Bürgerkrieg den politischen Apparat Europas lächerlich, hat er ihn seiner eigenen Ohnmacht überführt.

Die Gründe für die verspäteten und widersprüchlichen Interventionen der Europäischen Gemeinschaft sind ausreichend analysiert. Aus Angst vor den hochkochenden Nationalismen in Osteuropa wurde zu lange an der Fiktion des jugoslawischen Staates festgehalten. Die große Verwirrung nach dem Ende der Ost-West-Spaltung ließ die westeuropäische Politik auf die alten Schemata europäischer Koalitionen des vergangenen Jahrhunderts regredieren. Serbien war zudem der unvergessene Alliierte in der Anti- Hitler-Koalition. Außerdem erreichte der Bürgerkrieg schnell einen Punkt, an dem es unsinnig war, die kämpfenden Parteien durch Beobachter zu disziplinieren.

Aber das „Peace-making“, die militärische Intervention auf einem Balkan voller glimmender Zündschnüre, schreckt verständlicherweise. Vor allem muß auch anerkannt werden, daß nichts gefährlicher ist, als wegen des jugoslawischen Bürgerkriegs das europäische Vertragssystem zu brechen, das ja nur eine Intervention mit der Zustimmung aller Beteiligten zuläßt. Die Gefahr, daß Europa dann noch an ganz anderen zukünftigen Bürgerkriegsfronten in Zugzwang gerät, ist evident.

Aber geht es allein darum? Das Erschreckende ist doch, daß der helle Zorn, die unmißverständliche Empörung und der Protest der Leute ausbleibt; daß die europäischen Politiker mit einem ähnlich unbegrenzten Zeitbudget verhandeln dürfen, als ob es sich um eine neue Milchordnung handle — während Jugoslawien in die Barbarei rast. Da fragt es sich, was nun noch geschehen muß. Man braucht nicht erklärter Pessimist sein, um aus der Weltgeschichte zu wissen, daß Frauen und Kinder in Bunkern, daß zerstörte Schulen, beschossene Rot-Kreuz-Wagen noch nicht die Empörung auslösen, die zur politischen Macht werden könnte. Das Weltgedächtnis weiß leider zu genau, was Menschen Menschen anzutun vermögen. Eine jugoslawische Schriftstellerin schrieb kürzlich, es komme ihr vor, als ob Europa dazu neige, um so eher die Schuld zwischen Kroaten und Serben gerecht zu verteilen, je schlimmer die Massaker sind. Natürlich kann den Kroaten vorgeworfen werden, daß das Wort von der kroatischen Nationalität in ihrer Verfassung den Bürgerkrieg inhibierte. Aber die Kroaten sind die Angegriffenen.

Die Neigung, die Schuld gerecht zu verteilen, auch das ist ein Versuch des geistigen Cordon sanitaire. Gräfin Dönhoff, deren engagierte Liberalität ohne Makel ist, schrieb vor einigen Wochen den erschütternden Satz: „Aber wenn sie (die jugoslawischen Bürgerkrieger) ihren serbokroatischen Haß unbedingt ausleben wollen, dann sollte man sie eben lassen.“ Kein Zweifel, dieser Satz wird in den nächsten Monaten als furchtbares Zitat seine Karriere machen. Um die Dimension des Grauenhaften zu erkennen, muß gesehen werden, daß dieser Satz kein Zynismus ist. Es ist der Mut und die unverstellte Bitterkeit der eigenen Hilflosigkeit. Dieser Satz formuliert genau die Grenze westeuropäischer Liberalität und Zivilität. Wenn es denn ausgeschlossen ist, daß die Regeln unserer Humanität akzeptiert werden, dann muß eben Barbarei sein. Genau an dieser Grenze steht das neue Europa und wird schuldig.

Noch einmal. Was muß geschehen, bis überall begriffen wird, daß um der Menschlichkeit willen an dieser Grenze nicht haltgemacht werden kann? Was muß es sein, wenn es nicht die Frauen und Kinder in Bunkern sind?

An einen Satz habe ich geglaubt: „Dubrovnik wird bombardiert.“ Dubrovnik, Ragusa, die tausendjährige Stadt, das einzigartige, weißleuchtende Kleinod der byzantinischen, venezianischen Kultur — erst wenn die Menschen derartige Kulturdenkmäler angreifen, weiß der Rest der Menschheit, daß die kriegführenden Parteien längst schon vor Frauen und Kindern nicht haltgemacht haben. Erst wenn Kulturdenkmäler in Gefahr sind, haben die bedrohten Menschen Fürsprecher. Die Bomben auf Dubrovnik, das ist die Grenze. Die Grenze? Die Bomben auf Dubrovnik fallen in eine entsetzliche Stille. Die Zerstörung Europas hat begonnen, aber die Europäer machen sich ihren Frieden. Klaus Hartung

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen