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Zum Dichterischen eskalieren

Albert Drachs „neuer“ Roman „Untersuchung an Mädeln“  ■ Von Walter Klier

Dieser „neue“ Drach, der vierte nach der Unsentimentalen Reise, dem Großen Protokoll gegen Zwetschkenbaum und Z.Z. das ist die Zwischenzeit, ist zum erstenmal 1971 erschienen in einer Gesamtausgabe, die der Claassen Verlag (ab 1964) dem damals bereits über 60jährigen Autor widmete — der seltene Fall, daß eine solche Gesamtausgabe ausschließlich aus Erstveröffentlichungen besteht. Man könnte auch sagen: So skandalös hat Österreich, das mit seinen Literaten generell nicht zimperlich verfährt, niemanden in diesem Jahrhundert ignoriert, bis sich vor einigen Jahren Michael Krüger und der Carl Hanser Verlag daran machten, ihn ein zweitesmal (nun über 80jährig) dem Vergessen zu entreißen. Nachdem man ihm auch noch den Büchner-Preis verliehen hatte, rauschte etwas wie die Erregung beim Auffinden eines noch lebenden Klassikers durch Österreichs Feuilleton, und mit derselben ekelerregenden Nonchalance, mit der er vorher fast zu Tode geschwiegen worden war, taten nun alle, 'profils‘ Sigrid Löffler voran, die anderen hinterher, so, als hätten sie immer schon gewußt, was Drach selbst in einem Interview mit der ihm eigenen Bescheidenheit gesagt hat: „Ich bin eine Einzelerscheinung, und ich bin mit niemandem vergleichbar.“ Und: „Ich kann besser schreiben als alle anderen. Das weiß ich.“

Daß er nach 1970 wiederum in sträflichster Weise mißachtet wurde, könnte unter anderem auch mit seiner unbescheidenen Haltung den kleineren und größeren Päpsten der Literaturkritik gegenüber zusammenhängen. Eine Begegnung mit Reich-Ranicki beschreibt er selbst in dem erwähnten Interview so: „... und er redete unaufhörlich, er redete über das, über jenes, und alles, was er sagte, war ein Blödsinn (...) jetzt bin ich aufgesprungen und hab gesagt: ,Das, was Sie da sagen über das 'Times Literary Supplement‘, ist ein vollkommener Blödsinn, das ist eine der besten Zeitungen überhaupt in Europa, über mich haben sie in drei Artikeln geschrieben, und das letzte Mal haben sie gesagt, ich und noch ein anderer, das war der Canetti, seien die größten Avantgardisten im ganzen deutschen Sprachraum, obwohl wir beide alt seien und nicht in Deutschland lebten (...).‘ Also das hab' ich ihm auseinandergesetzt. Daraufhin wurde der Mann still, und still wurde es an dem Tisch.“

Das Kuriose an diesem alten Herrn, der 1902 in Mödling bei Wien geboren und nach dem vergeblichen Versuch der Nazis und ihrer französischen Freunde, ihn zu fangen und umzubringen (beschrieben in der Unsentimentalen Reise, die ihren Titel zurecht trägt) wieder dorthin zurückgekehrt ist, daß seine radikale Selbstüberschätzung oder -einschätzung mit jedem seiner Bücher, das nun wieder veröffentlicht wird, weniger übertrieben, dem Werk angemessener erscheint.

Untersuchung an Mädeln ist ein Roman über einen Gerichtsprozeß. Drach ist gelernter Jurist und übte zeitlebens, soweit er nicht von der Historie daran verhindert war, den Beruf eines Rechtsanwalts aus. Schon das macht ihn im Zeitalter der dichtenden Germanisten zu einem Relikt aus jener Zeit, als Schriftsteller noch aus anderen Berufen kommen und demgemäß andere Ausschnitte aus der Wirklichkeit kennen konnten als bloß historisch-kritisch Neuausgaben.

Untersuchung an Mädeln ist eine Geschichte, die in der Gegenwart (etwa den 60er Jahren) spielt und die, so glaubt man zunächst, auf den ersten paar Seiten bereits vollständig erzählt ist: Zwei junge Frauen, die „Mädel“ Esmeralda Nepalek und Stella Blumentrost stehen im Regen an einer Landstraße, das hundertundachte der vorbeifahrenden Autos hält, der Stechviehhändler Joseph Thugut läßt die zwei einsteigen, vergreift sich zuerst an der einen, dann an der anderen und wird von ihnen mit dem Wagenheber niedergeschlagen. Sie lassen ihn zurück, später auch das Auto, werden von der Gendarmerie aufgegriffen und, obwohl die Leiche niemals auftaucht, schließlich des Mordes an Thugut angeklagt.

Drach gibt als Gattung im Untertitel nicht Roman, sondern „Kriminalprotokoll“ an. Mit unnachgiebiger Akribie verwandelt er sich der Höllenmaschine einer solchen Gerichtsuntersuchung an, schreibt der Sprachform der juristischen Sprache zwar nach oder entlang, überdehnt sie aber zugleich gnadenlos ins Skurrile, was wiederum nicht unbedingt lustig wirkt, da der Gegenstand vollkommen der Lustigkeit entbehrt. Wie selten einer exemplifiziert Drach, daß es keine dichterische Sprache an sich gibt, sondern bloß Sprachen, die — im Prozeß des Schreibens verarbeitet — sozusagen zum Dichterischen eskalieren; gerade im beharrlichen Festhalten an dieser untersuchungsrichterlichen und staatsanwaltschaftlichen Sprache, der Perspektive, die eine Verdächtigungs-, Überführungs- und Verachtungsperspektive ist, treibt Drach die Weltbeschreibung auf eine Weise voran, der gegenüber einem vieles, was da seitenweise gepriesen wird, jahrein, jahraus, egal ob Handke, ob Ransmayr, ob Köpf oder Ortheil, einfach nurmehr irrelevant erscheint.

Die beiden „Mädel“, so wird es niemals gesagt, aber so ist bald zu erkennen, sind des Mordes schuldig zu befinden, weil sie einen leichten Lebenswandel gehabt hätten. Mit fürchterlicher Obszönität werden zwei eigentlich armselige, durchschnittliche Lebensläufe ausgebreitet und abgeklopft daraufhin, ob einzelne Vorfälle, einzelne Requisiten (das Auto, der Wagenheber) gar bereits auf die spätere Tat hinweisen. Plötzlich kommt diese Grundfrage heraus, die Gombrowicz im 'Kosmos‘ aufwirft und die eine erzählerische ebenso wie eine juristische Grundfrage ist: Wie hängen Dinge und Geschehnisse in Raum und Zeit wirklich zusammen, was ist eine Kausalität und was ein Zufall und was folgt aus etwas anderem. In dem grimmigen, verschachtelten und wie gesagt grauenhaft skurrilen (auch jeder einzelne Name, der vorkommt, ist so blödsinnig, wie er nur in der Wirklichkeit, nie aber in einem Buch sein dürfte: Permsusel, Apsmirkler, Besserwasser und Hinterhofhüfinger) Gerichtsdeutsch des Albert Drach geht das dann so: „Über kurz oder lang waren daher die Weibspersonen schwankend und stimmungsträchtig. Gleichzeitig kam sie aber auch jenes Bedürfnis an, das man allgemein als das menschliche bezeichnet. Ohne angeblich zu wissen, ob ein Ort sich vorfinden ließe, auf dem eine Entfertigung für sie zur selben Zeit ermöglicht würde, strebten sie dorthin, wo sie glaubten, erleichtert werden zu können, und mußten aus diesem Anlaß bis zu einem Holzschuppen vordringen, in dem zwei morsche Abtritte mit demgemäßen Öffnungen, durch Herausfallen oder raufhandelsmäßige Herausschlagung der Zwischenwand, gewissermaßen zu einer Doppelentleerungsstelle vereinigt waren. So konnten die Mädel bei Entleerung der Kleinseite einander nicht nur symbolisch die Hände reichen, sondern auch eines der andern Wohlbehagen mit auskosten, als plötzlich die Türe zu Stellas Abteil aufgestoßen wurde und der Puppinger eintrat. (...) Als sie sich aber von dieser erheben wollten, mengte sich der sie dabei Überrachsthabende ein, schob zunächst die Deckel der beiden Anlagen an deren Ursprungsorte zurück und griff dann an die weiblichen Stellen einer jeden von ihnen, obwohl diese durch Beanspruchung naheliegender Gegenden kaum besonders appetitlich sein mochten, wogegen trotzdem keine von ihnen Einspruch erstattete.“

Erstaunlicherweise wird man diesen aufs äußerste gespreizten Tonfall nicht nur nicht satt, sondern verfällt geradezu der „Untersuchung“, gerät in eine ganz vordergründige Krimi- Spannung, die der Autor bis zu allerletzt aufrecht hält. Die ungeheuerliche, hier Wort für Wort in Literatur übersetzte Einsicht, daß jemand kein guter Mensch sein muß, um dennoch nicht nur Mitgefühl, sondern Menschenwürde beanspruchen zu können, wird niemals ausgesprochen, und das dürfte den Roman für die Anhänger des Guten in der Literatur schwer erträglich machen. Hier ist niemand gut, auch nicht im Ansatz, sondern bloß gewöhnlich. Und die Beamten, Richter und sonstigen Obrigkeitsvertreter sind auch nicht rundheraus schlecht, sie üben bloß einen Beruf aus, zu dessen Grundstruktur ein gewisses Maß an Niedertracht, an Verurteilen statt Urteilen gehört.

Ganz am Ende, als die Urteilsverkündung bevorsteht, denkt Stella: „Die Frauen kamen gar nicht in Betracht. Sie waren eben nur Frauen. Die Welt gehörte nun den Herren, die Frauen waren nur so dabei, mußten ihnen gefallen, mußten sich einordnen, mußten wissen, wie sie sich verhalten sollten, damit sie den richtigen Eindruck erzielten, mußten sich mit ihrem ganzen Körper einsetzen, daß sie auf die Hoden wirkten, die doch alle Herren hätten und die gereizt werden konnten, ob sie nun tauglich seien oder nicht.“

Albert Drach, Untersuchung an Mädeln. Kriminalprotokoll. Carl Hanser Verlag, 352 S., geb. DM 39,80.

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