: Im Westen schlechte Laune
■ Ein Gespräch mit Péter Nádas, dessen »Buch der Erinnerung« auf Deutsch erschienen ist
Péter Nádas, 1942 in Budapest geboren, wurde im Alter von 16 Jahren Vollwaise, machte eine Lehre als Fotograf und arbeitete mehrere Jahre als Fotoreporter. Bereits 1965 erschien seine erste Erzählung, 1967 der erste Erzählungsband.
Über die Grenzen Ungarns hinaus bekannt wurde Nádas mit seinem Buch »Ende eines Familienromans« (deutsch 1979), der »wichtigsten Manifestation einer neuen ungarischen Autorengeneration« ('Die Presse‘, Wien). Bereits 1972 abgeschlossen, durfte es in Ungarn erst 1977 veröffentlicht werden; Übersetzungen in nahezu alle europäischen Sprachen folgten. Nádas veröffentlichte außerdem Erzählungen, Theaterstücke und Essays. 1981 war er für ein Jahr Stipendiat der Akademie der Künste in West-Berlin. 1986 erschien die ungarische Ausgabe seines »Buches der Erinnerung« in Budapest, von der Kritik als das literarische Ereignis des Jahres gerühmt. Ausgaben in den USA, in Frankreich, Italien, Dänemark, Holland und Schweden sind in Vorbereitung.
taz: Herr Nádas, Sie haben gesagt, die taz hat vor zehn Jahren, als sie als DAAD-Stipendiat in Berlin waren, Ihr Weltbild revolutioniert?
Péter Nadas: Ja, zunächst hat mich die Frage linker Politik sehr interessiert. Ich hatte große Vorbehalte dagegen, obwohl in meiner Familie linkes Gedankengut ganz zu Hause war. Meine Eltern waren vor dem Krieg Kommunisten, illegale, sie haben an der Widerstandsbewegung teilgenommen, später waren sie Funktionäre. Ich habe mit diesen familiären Traditionen in meiner Pubertät während der Revolution Schluß gemacht. Später habe ich eine Art postmarxistische Phase gehabt, bis 68, nach der Niederlage des Prager Frühlings war es damit endgültig vorbei, das war ein moralisches Gebot. Als ich nach Berlin kam, war ich plötzlich mit sozialen Spannungen konfrontiert, die ich auf der anderen Seite der Grenze nicht ernst genommen hatte. Ich hatte gedacht, es sei ein luxuriöser Zeitvertreib der westlichen Intellektuellen, links zu sein. In Berlin habe ich eher aber auch die Beschränktheit dieser linken Politik am eigenen Leib erlebt; ich habe dann versucht zu verstehen, warum die westliche Linke nicht verstehen will, was in Osteuropa vor sich geht, warum sie sich ebenso wie die Intelligenz im Osten von etwas abgrenzt und distanziert und den Kopf in den Sand steckt. Zu diesem Bild hat die taz wesentlich beigetragen. Andererseits habe ich durch diese Zeitung sehr viel über Emanzipationsbewegungen erfahren, über die Emanzipation der Frauen, der Homosexuellen, über Bewegungen gegen Rassentrennung und Rassismus, das hat mich sehr beeindruckt.
Aber die taz hat sich doch allzeit bemüht, Kontakte zu den östlichen Parallelkulturen zu unterhalten und die Oppositionsbewegungen in Osteuropa zu unterstützen?
Das war ein Problem, da Opposition eben nicht alles war. Die Opposition bedeutete in Ungarn sehr wenig, in Polen war das anders, sie bildete nur eine Oberfläche, die westliche Linke war nicht bereit, unter diese Oberfläche zu schauen. Sie hat den Alltag ausgeblendet. Jetzt rächt sich diese Nichtinformiertheit. Selbst die Deutschen stehen voreinander, als sprächen sie zwei verschiedene Sprachen. Das habe ich hier erlebt. Die Leute aus dem Osten leben an der Grenze des Nervenzusammenbruchs, höchstens begegnet ihnen Wohlwollen, das aber auch von oben kommt. Das Vergessen ist so allgemein, daß wir im Osten wie im Westen diese vierzig Jahre wieder von vorne bedenken müssen, sonst kommt es wirklich zu einer Katastrophe, einer Katastrophe, wie ich sie in Berlin erlebt habe. Diese Voreingenommenheit ist mir zwar erklärlich, aber bei Intellektuellen akzeptiere ich sie nicht.
Ist mein Eindruck richtig, daß Sie auch eine gewisse Distanz hatten zur ungarischen Opposition?
Es stimmt, ich hatte Distanz, ich wollte mich aus meiner Sprache nicht verdrängen lassen, ich wollte, daß meine Arbeiten auf ungarisch in meinem Land erscheinen. Ich habe keine Konzessionen gemacht, ich habe kene Selbstzensur geübt, ich habe nur gewartet, sieben bis acht Jahre lang hab ich aus Zensurgründen nichts publiziert, außer gelegentliche Theaterkritiken. Ich habe mich distanziert, jedoch an gewissen Aktionen teilgenommen, habe Charta 77unterschrieben,habe im Samizdat publiziert, da ich zeigen wollte, daß ich das gutheiße. Aber ich fühlte mich sehr unwohl in der Konspiration, das war mir verhaßt, das kannte ich von meinen Eltern.
Wie kommt es, daß ungarische Intellektuelle der gegenwärtigen Situation mit so viel mehr Gelassenheit begegnen als die Deuschen?
Wenn wir über nationale Charaktere sprechen wollen, obwohl ich nicht sehr daran glaube: die Ungarn sind ein Volk, das seit Jahrhunderten unter Fremdherrschaft lebte. Auf solche Situationen kann man aufzweierlei Arten reagieren: sich arrangieren, sich als moralische Null betrachten und zynisch werden oder eine Heldenpose annehmen, immer dagegen kämpfen, unabhängig davon, ob der Okkupant ein Russe, Türke oder sonstwer ist. Ich glaube, das Gros der Ungarn hat immer eine Zwischenposition eingenommen — der Ernst der Lage verbietet manchmal den Ernst. Ich selbst bin von einer Art Ernst, den ich mir eigentlich nicht erlauben kann. Ein von mir nicht so hochgeschätzter Kollege sagte einmal: Ich lecke alle Ärsche, aber man kann von mir nicht verlangen, daß ich dazu noch gute Miene mache. Er hat sich immerhin einen Rest Moral bewahrt.
Wie hat sich die Atmosphäre in Ungarn seit dem politischen Wechsel geändert, und wie wirkt sich das auf Ihr Arbeiten aus?
Ich bin viel nervöser, reizbarer, ich habe mein ganzes Leben in der Diktatur verbracht, ich habe sie zudem meinen Eltern zu verdanken. Ich bin um die Fünfzig, ich habe nicht allzu viele Möglichkeiten, meine psychische Struktur zu ändern, die unter einer Diktatur angelegt worden ist. Es ist mir sehr wichtig geworden, immer genau zu wissen, wer mein Gegner ist, wofür ich bin und wogegen, was meine Grundsätze sind usf. Ich habe die Wende nicht als Befreiung erlebt, da ich wußte, was folgen würde: ungeheure Verständigungsschwierigkeiten zwischen den beiden Welten und selbst innerhalb eines Landes. Was mein Schreiben betrifft: ich habe keine Lust mehr zur Fiktion, als ob ein Roman jetzt nicht das geeignete Medium wäre. Ich schreibe fst ausschließlich Essays, die mit den Ereignissen vordergründig wenig zu tun haben. Ich habe kürzlich über himmlische und irdische Liebe geschrieben, das klingt fast wie eine Perversion zu dieser Zeit. Ich bin aber davon überzeugt, daß, wenn wir nicht klären, was zum Beispiel Liebe ist, wir auch mit großen politischen Fragen nichts anfangen können.
Ein Teil Ihres Romans spielt in Ost-Berlin und erzählt von einer schwulen Liebe, ist eine Variation der später wiederkehrenden »Tod in Venedig«-Variation, warum?
Ich bin hier in Berlin zu der Überzeugung gekommen, daß die wichtige und schöne Emanzipation der Schwulen nur eine Folge der politischen Demokratie ist und nicht umgekehrt. Politische Demokratie bestünde für mich darin, ausgehend von den Gefühlen der Menschen eine Gesellschaft aufzubauen. Hier ist das Umgekehrte passiert: die Menschen werden mit Hilfe des liberalen Gedankenguts in Kasten gesteckt: es gibt die Lesben-, Schwulen-, Heterosexuellenkaste usf. Das ist mir verhaßt. Wenn ein Mensch einen anderen liebt, hat das mit sozialen Symbolen nichts zu tun. Die Manipulationen mit der Geschlechtsteilung sind zweitrangig. Hier haben die Symbole eine solche Bedeutung gewonnen, daß wir uns nicht mehr aus Sympathie begegnen, sondern aufgrund von Abzeichen; das erscheint mir ebenso mechanisch wie die ganze Organisation dieser Massengemeinschaft. Vielleicht ist es gut, sich als Schwuler zu bekennen, um nicht bespuckt zu werden, aber das ist nicht das höchste Ziel. Ich habe in Berlin einen Schwulenaufmarsch erlebt, der war schön, der war frei, aber er war eine Täuschung...
Berlin hat mir die Möglichkeit gegeben, über Liebe und über die Teilung Europas zu sprechen. Die Mauer war ein Symbol. Hier hat die Trennung zu einer richtigen Schizophrenie geführt. Beide Teile der Stadt waren krank. Das Sprechen über Liebe hat ja allgemein an Tragik verloren. Wenn die Tragik fehlt, wird die Literatur dünn. Berlin ist für mich ein Hintergrund für die Tragik der Liebe geworden, ob nun zwischen Männern oder Frauen oder gemischtgeschlechtlich, war mir dabei egal. Mich interessierte dieses Nichtzusammenkommenkönnen zweier Menschen, die Mauer in mir, zwischen zwei Liebenden, in der Welt, innen und außen.
Warum haben Sie einen Großteil der Romanhandlung in die DDR verlegt und nicht beispielsweise nach Ungarn?
Weil die DDR nach meiner Erfahrung die trostloseste Ecke der Welt war. Ich wollte die Aussichtslosigkeit der östlichen Perspektive zeigen, die so ausgeprägt nur in der DDR existierte. Deshalb habe ich diese Dreischichtigkeit gemacht: 50er Jahre Ungarn, 70er Jahre Ost-Berlin, dieselbe Geschichte an der Jahrhundertwende, denn ich bin überzeugt, daß wir seit Mitte des 19. Jahrhunderts diese Probleme mit uns herumschleppen und nicht lösen können.
Was bringt Sie zum Schreiben, was ist Ihr Impuls?
Ständiges Leiden, das westliche Schriftsteller und Intellektuelle ganz vergessen haben. Sie haben das Wort Leiden vergessen. Sie genießen, daß sie verschiedene Schatullen bekommen habe, dort können sie Alleinherrscher sein. Sie sind nicht mehr bereit, über Leiden zu sprechen. Für mich ist das ein moralisches Prinzip. Das darf man nicht abschreiben. Das ist vielleicht das Menschlichste in uns. Ich habe das Wort seit dreißig Jahren hier nicht mehr angetroffen. Nur schlechte Laune. Eine allgemeine graue Schicht überdeckt die westeuropäische Literatur, die schlechte Laune. Die russischen Klassiker, von denen ich sehr beeinflußt bin, haben noch gelitten. Die Schriftsteller des 19. Jahrhunderts wollten noch eine Übersicht haben, ein Weltbild, wir haben es verloren mit Gottes Tod. Wir haben weder Freiheit noch Gleichheit geschaffen, unsere Kultur befindet sich mitten in der Katastrophe und zieht die anderen Kulturen mit sich. Mir ist eine Übersicht trotz allem wichtig, obwohl ich weiß, daß sie unmöglich ist.
Was geschieht gegenwärtig in der ungarischen Publizistik?
In den letzten zwei Jahren ist Journalistik die führende Sparte geworden. Von einem Tag auf den anderen wurden wunderbare Journalisten geboren; täglich gibt es ein oder zwei Artikel, die beispielhaft sind, schön, kräftig, spitz. Die Belletristik macht eine Pause. Sie braucht immer etwas Übersicht, jetzt hat sie sie nicht.
Andererseits ist der Vertrieb zusammengebrochen, die Zeitschriften erreichen zum Teil ihre Leser nicht. Die Zeitschrift, für die ich lange gearbeitet habe, kommt nicht an die Leser, nur über ein paar private Kanäle. 'Nappali Has‘, eine von jungen Leuten gemachte Zeitschrift, wird sicherlich wichtig werden, sie hat ihre letzte Nummer im übrigen über Berlin gemacht.
Wird ihr Roman auch in Osteuropa verlegt?
Nein, bis jetzt leider nicht. In Prag wäre es wunderbar; er wird ins Polnische übersetzt, aber es gibt keinen Verlag. Die Verlage sind überall in Osteuropa zusammengebrochen, ich habe gegenwärtig auch keinen. Es gibt kein Bürgertum, keine Mäzene. Zudem gibt es dafür kaum Interesse, alle schielen nach dem Westen... Die Fragen stellte Michaela Ott
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