: Die Torys können das Böse nicht bannen
Auf dem Parteitag der Konservativen in Blackpool herrscht Verliererstimmung/ Schlagworte bestimmen die Debatte/ Thatcher-Flügel ist nach wie vor mächtig/ Major steuert auf eine Wahlniederlage zu/ Die Stadt gleicht einer Festung ■ Aus Blackpool Ralf Sotscheck Blackpool ist ein Alptraum. An der elf Kilometer langen Strandpromenade drängeln sich Spielhöllen mit einarmigen Banditen, Flippern und Videomaschinen, Schnellimbissen, aus denen der Geruch von ranzigem Fett strömt, und Andenkenläden, die sich in ihrem Angebot von Plastikspielzeug über „Blackpool Rock“ — eine ungenießbare gehärtete Zuckermasse — bis zu Teetassen mit eingearbeitetem Penis wie ein Ei dem anderen gleichen. Ist das der berüchtigte englische Humor? Aus jedem Laden plärren Lockrufe: „Super-Bingo. Megapreise.“
Die Irische See auf der anderen Seite der Promenade dient der Orientierung, damit man nicht im Kreis läuft. Die gesamte Promenade ist mit über 500.000 Glühbirnen erleuchtet, die Märchenfiguren, Tiere oder Blumen formen und ständig blinken. Ein geballter Angriff auf die Sinne. Wer sich hier erholen will, braucht ein dickes Fell. Dennoch kommen jedes Jahr fast 17 Millionen Besucher nach Blackpool, das „beliebteste Seebad der Welt mit seinen 3.500 Hotels und Pensionen“ (Werbeprospekt). In dieser Woche kommen noch 5.000 Tory-Delegierte hinzu, die im Wintergarten ihren Parteitag abhalten.
„Ich mag die Torys“, sagt George, der Besitzer des Arcade- Souvenirgeschäfts. „Die geben mehr Geld aus als die Labour-Delegierten.“ Als ich mich weigere, ihm einen kleinen, grünen Plastikwal abzukaufen, der in einer Wanne vor dem Laden seine Runden dreht und Wasserfontänen auf den Gehweg prustet, diagnostiziert George, daß ich wohl kein Tory sei.
Blackpool gleicht einer Festung. Die Ausfallstraßen werden von der Polizei kontrolliert, auf den Straßen patrouillieren Hunderte von Beamten. Sämtliche Briefkästen in der Stadt sind mit Metallplatten vernagelt, damit sie nicht in die Luft gesprengt werden können. Wer einen Brief aufgeben will, muß zur Hauptpost. Die Sicherheitsmaßnahmen kosten über zwei Millionen Pfund. Journalisten und Delegierten werden bei der Akkreditierung strenge Vorsichtsmaßnahmen empfohlen: nur in Begleitung reisen, keine leeren Bahnabteile benutzen, mit vollem Tank losfahren, damit man nicht anhalten muß, und vor jeder Fahrt den Unterboden des Autos abtasten. Wer es wider Erwarten bis zum Hotel schafft, darf nicht nachlässig werden: „Studieren Sie Ihr Zimmer genau und achten Sie auf Verdächtiges. Sind die Möbel bewegt worden? Liegt der Teppich noch an der alten Stelle? Und wo kommt der Fleck an der Wand her?“
Am Wintergarten — einer architektonischen Abscheulichkeit aus mindestens vier verschiedenen Baustilen, die 1878 als Eisstadion eröffnet wurde — wird aus dem potentiellen Opfer ein potentieller Täter: Der Sprengstoffdetektor reagiert hochgradig positiv auf meine Hände, was ein kurzes Verhör nach sich zieht: „Was haben Sie heute in der Hand gehabt?“ Das Tory-Parteitagsprogramm. „Das ist nicht explosiv. Sonst noch was?“ Seife. Das genügt offenbar als Erklärung.
Zunächst scheint es, als sei ich in einem weiteren Souvenirladen gelandet: Tory-Teetassen, Tory-Krawatten und Tory-Geschirrtücher. Es kommt jedoch noch schlimmer. Am benachbarten Stand gibt es Che-Guevara-T-Shirts, doch Ches Gesicht ist durch Thatchers ersetzt: „Thatcherite Revolutionary“. Kein einziges T-Shirt — nicht mal ein graues — zeigt John Majors Konterfei. Das ist durchaus symbolisch. Die ondulierte Lady, die bei den nächsten Unterhauswahlen nicht mehr kandidieren wird, verfügt bei der Parteibasis nach wie vor über weit mehr Sympathien als ihr Nachfolger. Zum harten Kern der Thatcheristen werden etwa 30 Prozent der Delegierten gerechnet. Und die verlassen den Saal, als Umweltminister Michael Heseltine redet. Schließlich hat er vor einem Jahr den Angriff auf die Premierministerin geführt, war dann aber als ihr Nachfolger durchgefallen.
Der Parteitag dient vor allem der Beruhigung des rechten Fügels. Das beste Beispiel dafür liefert Innenminister Kenneth Baker. Er erzählt den Delegierten, was sie hören wollen: härtere Strafen für Joyrider (die mit geklauten Autos mit Höchstgeschwindigkeit durch nächtliche Stadtstraßen rasen) und für Gefangene, die Revolten anzetteln (bis zu zehn Jahre), mehr Polizei, neue Asylgesetze, um die „Wirtschaftsflüchtlinge“ umgehend wieder loszuwerden. Mit keinem Wort erwähnt Baker den Gesetzesentwurf, den seine Staatssekretäre erdacht haben. Der sieht nämlich weniger Gefängnisstrafen für gewaltlose Verbrechen vor, mehr Rehabilitationsprogramme und mehr Ausbildungsplätze für Gefangene — ein Programm für den politischen Alltag, das nicht auf einen Parteitag mit dem Ruf nach „law and order“ gehört. Ein Delegierter bringt es auf den Punkt: „Wir brauchen keine Rehabilitationsprogramme, wir brauchen die Todesstrafe.“ Der Applaus spricht Bände.
Entscheidend für den Erfolg bei den Parlamentswahlen — die John Major auf nächstes Jahr verschoben hat — ist der Zustand der britischen Wirtschaft. Finanzminister Norman Lamonts Rede war jedoch eher ernüchternd: Er versprach eine Senkung der Einkommenssteuer um 20 Prozent, jedoch nicht während der nächsten Legislaturperiode. Am Vorabend seiner Rede hatte der Internationale Währungsfond Zahlen veröffentlicht, die den Hoffnungen der Torys einen weiteren Dämpfer versetzten. Demnach wird die Zahl der Arbeitslosen 1992 auf drei Millionen steigen, Investitionen werden zurückgehen, und die Außenhandelsbilanz wird tiefer in die roten Zahlen sinken. Unter den G7-Ländern hat Großbritannien ohnehin die schlechteste Investitionsbilanz.
Ein anderer potentieller Wahlverlierer ist die Gesundheitsreform. Am Mittwoch wurde bekannt, daß das St. James-Krankenhaus in London, eins der privatisierten Krankenhäuser, eine Million Pfund (ca. 2,92 Millionen Mark) Defizit erwirtschaftet hat und deshalb die Zahl der Patienten reduzieren müsse. Gesundheitsminister William Waldegrave fährt der Schreck so tief in die Glieder, daß er am Donnerstag die Privatisierung weiterer Krankenhäuser auf Eis legt. Mit einer rhetorisch brillanten, wenn auch nichtssagenden Rede kann er die Forderungen nach seiner Entlassung vorerst zum Verstummen bringen.
Einen Warnschuß erhält Major von den beiden ehemaligen Tory- Vorsitzenden Norman Tebbit und Cecil Parkinson, die auf einer Ausschußsitzung der Gruppe „Conservative Way Forward“ — einer Gruppe, die sich dem Erhalt des Thatcherismus verschrieben hat — am Rande des Parteitags erklärt: „Solange Major mit den Privatisierungen weitermacht und den Kampf gegen die Inflation nicht kurzfristigem Wachstum opfert, werden wir ihn unterstützen.“
Majors eigene langerwartete Parteitagsrede beginnt mit einem „unendlich tiefen Dank“ an Thatcher. Es folgen kleine Angriffe auf die Labour-Party und die Bestätigung der konservativen Wirtschafts- und Europapolitik. Majors Hauptanliegen ist offensichtlich die staatliche Gesundheitsversorgung — die werde immer kostenfrei bleiben, versichert er. Am Ende des laschen Vortrags spendet der Parteitag stehende Ovationen.
Politische Entscheidungen werden in Blackpool nicht getroffen. Es geht vielmehr um moralische Fragen, und auf diesem Gebiet fühlen sich die Torys sicher: Der Kampf von Gut gegen Böse. Die Labour Party ist böse. Sozialismus ist böse. Pitbulls sind böse. Jugendliche Joyrider sind böse. „Wenn man — wie einige Minister — an das angeborene Böse glaubt, an die Saat des Schlechten, dann liegt es auf der Hand, das zu eliminieren“, schreibt Judith Williamson im 'Guardian‘.
Die Tory-Konferenz ist ein Parteitag der Verlierer. Das weiß auch die Parteibasis und bereitet deshalb der Heldin von gestern einen Empfang, der fast einem Mißtrauensvotum gleichkommt: Noch nie hat sich ein Tory-Parteitag so unverfroren über die Parteiführung hinweggesetzt und einen der bestgeplanten Auftritte in der britischen Geschichte zu einer Demütigung für den Premierminister gemacht. „Die siebenminütige Ovation für Margaret Thatcher war weniger ein Tribut für ihre Leistung als ein Aufheulen über ihren Sturz“, bemerkt ein Journalist erstaunt. Major wird damit leben müssen. Erst wenn er die Wahlen gewinnen sollte, kann er dem Thatcher- Flügel den Kampf ansagen.
Blackpools Promenade wird am Abend vom Tory-Blau beherrscht. Der schwarze Discjockey in Yates's Winelodge will das durchaus wörtlich verstanden wissen: „Die Konservativen trinken bei uns Champagner in Massen. Sie haben Geld wie Heu.“ Ich verirre mich an der Promenade und lande ausgerechnet wieder in Georges Souvenirladen, vor dem immer noch der Plastikwal in der Wanne dümpelt. „Du bist zurückgekommen, um den Wal zu kaufen“, meint George hocherfreut, während ich resigniert nicke. „Du bist doch ein Tory. Ein Labour-Anhänger hätte höchstens eine Zuckerstange gekauft.“
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