: Staub zu Staub: Wenn ein langes Leben endlich doch zu Ende geht
Kopfzerbrechen und Schweißausbrüche bereitet die Entsorgung von Statuen und Leichen ■ Aus Moskau Klaus-Helge Donath
Der Streit bewegte sich im Spannungsverhältnis zwischen Idolatrie und Veneration. Das war im 5. oder 6. Jahrhundert. Ich kann das nicht nachprüfen, meine Unterlagen über Kirchengeschichte stehen in Berlin. Damals dachte ich noch, hier in Moskau würde ich sie nie brauchen. Auf jeden Fall war es ein zäher Kampf in der Frühgeschichte des Staatschristentums. Für den Atheisten — in diesem Falle den Nichtwissenden — ein paar Erläuterungen. Idolatrie steht für die bildhafte Verehrung des Göttlichen, (du sollst nicht bildhaft Zeugnis ablegen!), Veneration kommt ohne eine konkrete Vergegenständlichung aus, sucht einen Ausweg im Semiotischen, versinnbildlicht bestenfalls. Die Säkularisierer der Heilsutopie in Moskau scherten sich einen Dreck um derartige Scholastik. Ihre „Größen“ fanden sich schnell als Gipsköpfe wieder. Unbefangen griffen sie auf Praktiken des heidnischen Polytheismus zurück. Gleichzeitig bemühten sie die Unfehlbarkeit des monotheistischen Pantokrators. Sah der heidnische Glaube immerhin eine Arbeitsteilung in der Chefetage der Heilsverwaltung vor, neigte der Kreml zur Verhimmelung in Personalunion.
Das rächt sich jetzt an jedem einzelnen Individuum: wie schwer fällt es ihm, sich von seiner Götzenverehrung zu trennen. Anstrengend ist es für alle Beteiligten: Für die Bilderstürmer, die im Schweiße ihres Angesichts die tonnenschweren Monstren von ihren Sockeln stürzen und die, die ihnen blaß vor Zorn nachschwitzen. Beide haben ihre Schwierigkeiten mit der Vergangenheit. Der Schnelligkeit des Abräumens entspricht die Hartnäckigkeit des Beharrens. Zwischentöne? „Zum Zug nach Sankt Petersburg“, wie komisch das klänge, meinte neulich jemand, der über jeden Verdacht erhaben ist. Die alte Nachbarin klagte, „Jetzt auch noch Lenin, warum?“ Der Taxifahrer fand die „Straße der Roten Armee“ nicht. Ich tröstete ihn... Müsse er sich ja jetzt nicht mehr... Ihm gefiel das nicht. Ihn ärgerte das Umbenennen nicht nur aus professionellen Gründen. Das sowieso. Auch die Moskauer Droschkisten haben ihre Schwierigkeiten mit dem Vorwärtskommen: Stalin entlohnt in Dollars. Im zweiten Leben avancierte er zum Chef der Moskauer American- Express-Branche. Lenin dagegen steht über den Dingen. Buchstäblich. Ein Moskauer Bezirksparlament traf einen weisen Beschluß — ausnahmsweise. Lenin am „Oktjabrskaja“ bleibt stehen. Das architektonische Ensemble würde Schaden nehmen. Vielleicht auch die Statik des drunterliegenden Tunnels. Warum noch mehr Risse riskieren? Präventive Folgenbekämpfung. Lenin hält inne, ganz gegen seine Gewohnheit. Weder einen Schritt vorwärts noch einen zurück. Er bleibt, wo er ist, eisern und überirdisch. Zumal das Londoner Auktionshaus Christies an Objekten aus der Zeit der Reproduzierbarkeit des Kunstwerkes kein überschwengliches Interesse angemeldet hat. Die Inselpragmatiker können genauso gut alle Meilensteine auf der M1 zwischen London und Leeds versteigern. Die Markierungen dürften in niedrigerer Stückzahl aufgelegt worden sein.
Dem unterirdischen Modell wird man bald nicht mehr an die Wäsche müssen. Zweimal die Woche wurde Wladimir Iljitsch von einem verdienten Mitarbeiter des „Institutes für biologische Strukturen“ aus dem Schlaf geholt. Perspirationsspuren wurden beseitigt und eine Stärkungsspritze verabreicht. Insgesamt wirkt eine 150köpfige Kosmetikbrigade im Diskreten. Mehr als eine Million Rubel jährlich ließ man sich den lebenden Toten kosten. (Der Institutsdirektor: „In den 40 Jahren, in denen ich hier arbeite, hat der Körper Lenins keine einzige Veränderung gezeigt!“) Na, bitte. Die Russen können Verfall aufhalten. Warum nicht an einem lebenden Organismus, der Gesellschaft etwa? Sie atmet.
Lenins Lebensabend verkürzen ist mehr als eine moralische Frage. Soll man ihn nach Petersburg überführen, wie es sein Wunsch war? Hält er es ohne Zuwendung aus? Schon entsteht ein neues Problem. Die dann sterbliche Hülle müßte man vor Kopfjägern schützen. Admiral Achromejew, der vor kurzem erfolgreich Hand an sich legte, war kaum unter der Erde, da haben ihn Militariasammler wieder ausgebuddelt und seine Uniform geklaut. Gleiches widerfuhr einem unbekannteren General ein paar Reihen weiter. Dem niederen Rang entsprechend legte man ihn nicht wieder zurück. Ähnliches drohte einem unbeaufsichtigten Lenin. Einziger Ausweg: die Feuerbestattung. Das hieße nun, Millionen Rubel zum Schornstein rausjagen. Schade drum. Fragen über Fragen. Und Lenin kann sie nicht beantworten. Sein ausgelagertes Gehirn hat man noch nicht wieder zum Sprechen bringen können.
Angesichts der Problemfülle verließen die Abgeordneten des Russischen Parlamentes vorletzte Woche sturmartig die Wirtschaftsdebatte. Im Foyer verteilte eine Bibelgemeinschaft kostenlos die Heilige Schrift. Die Offenbarung neigte sich dem Ende, schließlich wollten alle billig vom Baum der Erkenntnis kosten, da mußten Ordnungskräfte die heißhungrigen Volksvertreter gewaltsam entknäueln. Am Anfang war das Wort. Dann erst folgte die Versuchung.
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