INTERVIEW: „Eine Wiederinbetriebnahme wäre fahrlässig“
■ Sebastian Pflugbeil, Physiker und Mitbegründer des „Vereins Kinder von Tschernobyl“, fordert Bundes- umweltminister Töpfer anläßlich seines Tschernobyl-Besuches auf, die UdSSR zur Stillegung des AKWs zu bewegen
taz: Beim letzten Tschernobyl-Kongreß vor einem halben Jahr in Berlin haben Sie wiederholt vor einem neuen Unfall gewarnt. Nun ist genau das eingetreten, was Sie befürchtet haben — ein Brand, der zu einer zweiten Reaktorkatastrophe hätte führen können.
Sebastian Pflugbeil: Daß es so kommen mußte, war ziemlich sicher, weil die Grundprobleme nicht gelöst wurden. Das betrifft unter anderem die Regelmechanismen für den Reaktor, die nach wie vor äußerst störanfällig sind, obwohl sie nach der Katastrophe von 1986 nachgebessert wurden.
Was wäre passiert, wenn der Reaktor nicht per Hand ausgeknipst oder dabei ein Fehler gemacht worden wäre?
Es wäre durchaus vorstellbar, daß die Abschaltung per Hand nicht funktioniert hätte. Wenn noch zwei kleine Fehler dazugekommen wären, hätte es durchaus so einen schweren Unfall wie vor fünfeinhalb Jahren geben können. Mehrere Fehler sind dabei möglich. Die kommen vor allem immer dadurch zustande, daß sie sich summieren und unvorhergesehen zu einer Katastrophe führen können.
Die sowjetische Presse hat der Kraftwerksleitung vorgeworfen, bei der Nachbesserung schadhafte Teile zu verwenden...
In den letzten Jahren sind die Reaktoren immer wieder ausgebessert worden. Aber das hat niemals ausgereicht. Möglicherweise ist der Brand darauf zurückzuführen, daß schadhafte Teile verwendet wurden, daß die Nachbesserungen nicht fachmännisch erfolgten und dann auch nicht technisch überprüft wurden.
Jetzt müssen wir uns natürlich alle fragen, ob wir genug getan haben, um die Stillegung des AKWs durchzusetzen.
Haben wir offensichtlich nicht. Ich weiß nicht, wie lange wir noch warten sollen, bis die nächste Panne passiert. Es sind immer noch diverse Reaktoren dieses Typs in Betrieb, und wer jetzt nicht kapiert hat, daß diese Reaktoren wegmüssen, dem weiß ich wirklich nichts mehr an Argumenten entgegenzuhalten. Ein ähnliches Problem besteht auch mit den Reaktortypen, wie sie in Greifswald, im bulgarischen Kosloduj und vielen anderen Orten der Sowjetunion zu finden sind. In Greifswald mußten sie stillgelegt werden, weil sie elementaren Sicherheitsanforderungen nicht genügt haben. Aber wir entblöden uns nicht, dafür zu sorgen, daß diese Dinger in Kosloduj mit Ersatzteilen aus Greifswald weiterlaufen. Das ist nicht nur schizophren, das ist unverantwortlich.
Bundesumweltminister Töpfer fährt nächste Woche nach Tschernobyl. Was möchten Sie ihm mit auf den Weg geben?
Ich würde mir wünschen, daß er alles tut, damit das Ding schnell abgeschaltet wird. Und ich würde mir nicht wünschen, daß er Verhandlungen führt, damit dort ein deutsches Atomkraftwerk hinkommt.
Wo kommt der Strom dann her?
Ich sehe natürlich auch das Problem, daß die Menschen, die dort noch wohnen, Strom brauchen. Man kann nicht sofort abschalten, ohne den Leuten Alternativen anzubieten. Die Sowjetunion hat jetzt aber die Chance, die wir in der DDR nur wenige Tage hatten, nämlich ein absolut neues Energiekonzept auf die Beine zu stellen. Da wäre natürlich der Hinweis, wir helfen euch mit einem neuen Atomkraftwerk, äußerst kontraproduktiv. Jetzt ist dringende Hilfe erforderlich, beispielsweise mit Blockheizkraftwerken zum Aufbau kommunaler Energieversorgungsstrukturen und Energieeinspartechnologien.
Der Verein „Kinder von Tschernobyl“ hat jetzt einen Grund mehr, sein Umsiedlungsprojekt voranzutreiben...
Es gibt immer noch viele hunderttausend Menschen im Süden Belorußlands und im Norden der Ukraine, die in radioaktiv belasteten Gebieten leben müssen, in denen eigentlich niemand mehr leben dürfte. Die Umsiedlungen dauern viel zu lange. Deshalb bemühen wir uns, sie zu forcieren und nicht erst auf die Initiative der belorussischen und ukrainischen Regierungen zu warten.
Die Kraftwerksleitung will den Schaden in sechs Wochen behoben haben und wieder ans Netz gehen...
Das halte ich für fahrlässig. Dennoch sollten wir uns darüber klar sein, daß unser Appell wahrscheinlich nicht gehört wird. Deshalb müssen wir auf unsere Regierung Druck ausüben, daß dort kein neues Atomkraftwerk hingestellt wird, sondern daß andere Wege der Energiegewinnung und -einsparung gegangen werden — mit Signalfunktion für die gesamte Sowjetunion. Interview: Bärbel Petersen
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