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Tanz auf dem atomaren Vulkan

■ Fünfeinhalb Jahre nach der bisher größten atomaren Katastrophe, dem Super-GAU im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl, ist dort am Freitag abend erneut ein Brand ausgebrochen, diesmal in Block II.

Tanz auf dem atomaren Vulkan Fünfeinhalb Jahre nach der bisher größten atomaren Katastrophe, dem Super-GAU im sowjetischen Atomkraftwerk Tschernobyl, ist dort am Freitag abend erneut ein Brand ausgebrochen, diesmal in Block II.

Europa ist am vergangenen Freitag nur knapp einer zweiten atomaren Katastrophe entkommen. Die Turbinenhalle des Reaktors II in Tschernobyl ist durch eine Wasserstoffexplosion und einen anschließenden Brand in den Abendstunden weitgehend abgebrannt. Erst nach knapp vier Stunden hatten rund 300 Feuerwehrleute und 60 Techniker das Feuer löschen können. Glück im Unglück: Der 1.000-Megawatt-Reaktor war zum Zeitpunkt der Explosion offenbar bereits per Hand abgeschaltet worden.

Während es in ersten Meldungen hieß, bei dem Unfall sei keine Radioaktivität in die Umwelt gelangt, meldete das russische Fernsehen am Samstag abend, in der zerstörten Turbinenhalle seien leicht erhöhte Radioaktivitätswerte gemessen worden. 36 Quadratmeter des Hallendachs und ein Stützpfeiler waren bei dem Brand eingestürzt.

Der Leiter der ukrainischen Reaktorkontrollbehörde, Nicolai Tenberg, verharmloste den schwersten Störfall seit der Katastrophe in einer ersten Bilanz am Samstag: „Niemand ist verletzt worden. Die Höhe der Strahlung bewegt sich innerhalb der Grenzwerte. Der erste und dritte Reaktor arbeiten normal.“

Nach den vom UdSSR-Kernenergieministerium und der Werksleitung am Wochenende verbreiteten Informationen hatte die Werksmannschaft am Freitag abend eine Dampfturbine des Reaktors zu Wartungszwecken abgeschaltet. Als der Reaktor per Automatik wieder hochgefahren wurde, hätten um 18.09 Ortszeit nach einem Kurzschluß im Hauptgenerator der Turbinenhalle einige Stromkabel zu brennen begonnen. Der Brand sei zwar innerhalb einer Minute gelöscht, der Reaktorblock aber vorsorglich per Hand abgeschaltet worden. In dieser scheinbar wieder beruhigten Situation sei Wasserstoff in die Turbinenhalle geströmt, und plötzlich sei es zu einer Explosion gekommen — die Halle stand in Flammen. Den Feuerwehrleuten sei es mit Mühe gelungen, das Feuer zu löschen, bevor es auf den Reaktorraum übergreifen konnte. Die Turbinenhalle ist nach Auskunft von Werksdirektor Michail Umanetz durch eine Stahl- und eine Betonwand vom eigentlichen Reaktor getrennt.

Die Reparatur der zerstörten Halle wird nach Umanetz' Angaben sechs Wochen in Anspruch nehmen. Danach solle der Reaktor schleunigst wieder ans Netz. Eine ukrainische Regierungskommission soll den Unfall in der Zwischenzeit untersuchen.

Ein solches Unfallszenario hält Michael Sailer vom Darmstädter Öko-Institut für plausibel. Der Generator dieser graphitgesteuerten RMBK-Reaktoren werde aus technischen Gründen mit Wasserstoff gekühlt. Wenn bei dem kleineren Brand ein Leck im Wasserstoffkreislauf entstanden sei, könne es durchaus zu einer solchen Explosion kommen.

Verblüffende Parallelen zum Super-GAU von '86

Auch die Handabschaltung sei bei einem solchen Unfall fast schon normal. „Es gibt keine Abschaltautomatik, die auf Brand reagiert.“ Die erhöhte Radioaktivität in der Turbinenhalle könne aus einem kleinen Leck der Rohre des Reaktor-Dampfkreislaufes entstanden sein. Möglicherweise hätten die Betreiber aber auch Atommüll in der Halle gelagert.

Der Unfall weist verblüffende Parallelen mit dem Super-GAU in Tschernobyl vor fünfeinhalb Jahren auf. Auch damals begann die Katastrophe im Block IV in der Nacht von Freitag auf Samstag. Auch damals sollte der Reaktor heruntergefahren werden, und auch damals kam es zu einer Explosion. Diesmal gelang es den Reaktormannschaften aber offenbar, den Meiler rechtzeitig zum Stehen zu bringen.

Störfälle und kleine Brände gehören in Tschernobyl zur Tagesordnung. Seit Jahren ist bekannt, daß eines der Hauptprobleme der Reaktoren dieser Bauart im Fehlen eines Schutzes gegen Stromausfälle besteht. Die sowjetische Regierung hatte daher bereits 1988 beschlossen, zu den 13 laufenden Atomreaktoren keine weiteren dieses Typs zu bauen und die in Bau befindlichen nicht fertigzustellen. Bei einem gravierenden Unfall im April dieses Jahres war auch der erste Block des Tschernobyl-AKWs in einem riskanten Manöver nach einem Kurzschluß abgeschaltet worden. Damals fielen alle Sicherheitsanlagen aus. Und im August trat radioaktives Wasser aus dem jetzt havarierten Block II aus.

Auch die Informationspolitik weist bemerkenswerte Parallelen zwischen heute und dem April 1986 auf. Der Kraftwerkssprecher hatte am Samstag morgen gegenüber Journalisten nur berichtet, daß der Brand nach dem Kurzschluß schnell habe gelöscht werden können und der Block schon wieder im Normalbetrieb laufe.

Keine erhöhte Radioaktivität in Europa

Kurz darauf meldete der Ukraine- Korrespondent von Radio Rußland, daß Flammen auf dem Dach der Turbinenhalle zu sehen gewesen seien. Wenige Stunden später veröffentlichte das UdSSR-Ministerium für Kernenergie dann die offizielle Version des Unfalls: keine Verletzten und keine Radioaktivität. Am Samstag abend meldete dann das russische Fernsehen, daß in der zerstörten Turbinenhalle erhöhte Strahlenwerte gemessen worden seien.

In Westeuropa meldeten Österreich und Finnland keine erhöhten Radioaktivitätswerte. Bundesumweltminister Klaus Töpfer, selbst fast schon auf dem Weg nach Tschernobyl, ließ Meßtrupps ausrücken und gab nach einigen Stunden Entwarnung. Bislang seien keine erhöhten Strahlenwerte in der Bundesrepublik gemessen worden. Die Messungen sollen aber weitergehen. Wenn es meßbare Auswirkungen gäbe, wären diese trotz der herrschenden Ostwinde heute auch noch nicht zu messen. Mitarbeiter der Wetterwarte der Freien Universität in Berlin erklärten der taz, daß im Augenblick ein Hoch ohne wesentliche Bewegungen die Luftmassen über Südrußland festhalte.

Töpfer reist in dieser Woche nach Moskau. In dem neuerlichen Störfall sieht er seine Besorgnis über die Sicherheit der Atomkraftwerke in Mittel- und Osteuropa bestätigt. Diese Situation müsse dringend durch ein umfassendes Maßnahmenbündel verbessert werden — etwa durch konsequenten Ausbau eines Stromverbundnetzes und durch gezielte Erhöhung des Wirkungsgrades fossiler Kraftwerke in der UdSSR. Töpfer will auch an der geplanten Reise nach Tschernobyl festhalten, um sich vor Ort einen Eindruck zu verschaffen. Hermann-Josef Tenhagen

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