: Willi Lemke ist nicht mehr dabei
■ Das Vorlesungsverzeichnis WS 1991/92: was fehlt? / Eine nostalgische Rezension
Spannende und brisante Angebote der Uni Bremen für das Wintersemester: „Das Hafenarbeiterprojekt“ bietet ein Arbeitsvorhaben an: „Zur Kritik der Arbeiteruntersuchung“. Mit Wiltrud Drechsel und Wilfried Gottschalch wird für das Projekt „Politische Sozialisation als Verhinderung von Klassenbewußtsein“ ein Lektürekurs durchgeführt (obligatorisch!): „Geschichte der westdeutschen Arbeiterbewegung nach 1945“ (Ansätze für die Überwindung reformistischer Ideologie?) Das Projekt „Konfliktfälle im Betrieb und ihre methodische Gestaltung im Unterricht“ übt Rollenspiel und Simulation für die Schule ein (Lohnkampf, Kündigung ...). Prof. Alfred Sohn-Rethel: der Kurs „Kapital I“ für „Sozialwissenschaftler im engeren Sinne“ und „Ökonomie der spätkapitalistischen Übergangsgesellschaft“ (Kurs). Der Hochschullehrer: „Die Thematik ist vorgegeben durch die Auffassung von Marx und Engels, daß im Schoße des Kapitalismus die materiellen Vorbedingungen des Sozialismus heranreifen.“
Keine Sorge, Sie sind mit Grund irritiert: Es handelt sich um das erste Vorlesungsverzeichnis der nunmehr 20jährigen Geburtstags-Uni Bremen, das zum Wintersemester 73/74 erschien. Jägergrün ist die Rarität, nur noch im Magazin der Bibliothek aufzutreiben, gedruckt auf billigem Papier. MathematikerInnen interessierten sich für Krebs in
Abhängigkeit von Luft, Sexualpädagogen für den Zusammenhang „Sexualität und Klassengesellschaft“, ein Herr Abramzik referierte über „Religion in der kritischen Theorie“, und in Musik kümmerte man sich um die „Soziologie des Arbeiterliedes“.
Das Veranstaltungsverzeichnis WS 91/92 kommt schneeweiß daher, mit dem flotten Speckflaggen-Logo, gedruckt nicht mehr in einem Lokalverlag, sondern in einem „Deutschen Hochschulverlag“. Inserierten 1973 Buchhandlungen und Laborgerätehersteller, sind heute die „Deutsche Airbus“ dabei, ein Hersteller von technischen Gasen, die „FAZ“, das „Handelsblatt“ und mehrere Geldinstitute. Die Lehrveranstaltungem liefen eine Woche länger damals, dafür gab es noch keinen Stillraum, kein feministisches Frauenreferat, keine psychotherapeutische Beratungsstelle. Damals benötigte man 330 Seiten, heute 535 und eine Lupe. Nur der „Raum für Notizen“ hat sich in 18 Jahren halbiert: 1991 drei Seiten.
Was macht heute der Prof.Johannes Beck, vormals „wissenschaftlicher Angestellter mit Lehraufgaben, Kommunikationsforschung“ (Kurs: „Zur Lage der Arbeiterjugend“)? Z.B. dies: „Masken der Wirklichkeit (Bildung der Kultur / Kulturanthropologie)“. Dieter Mützelburg (“Polytechnische Einheitsschule“ mit „Erkundungen“ in der Gesamtschule Ost) führt heute in die „Sportsoziologie“ ein. Literaturgeschichtler Prof. Dieter Richter untersuchte 1973, „warum und zu wessen Nutzen Realität in Lese- und Sprachbüchern verfälscht ist.“ Heute z.B.: „Einführung in die Lyrik. Analyse motivgleicher Gedichte aus fünf Jahrhunderten.“
Vorbei die Tage, da ein Willi Lemke „Das Verhältnis von Sport und Staat am Beispiel der Olympischen Spiele 1972 in München“ diskutierte (O-Ton Lemke: „Funktionen des Sports innerhalb des BRD-Kapitalismus eindeutig definieren“; „Sport wird zur Durchsetzung bestimmter politischer Zielsetzungen von der jeweiligen herrschenden Klasse konsequent genutzt“). Passe das Arbeitsvorhaben „koedukative Textilarbeit“. Christoph Hoppensack (“Bundessozialhilfegesetz, Entstehung und Anwendung“) interessiert sich als Staatsrat heute nur noch für die Anwendung.
Das Vorlesungsverzeichnis WS 91/92 bietet: Laserapplikation; Mathematische Modelle des Nervensystems; Fabrikautomatisierung; Sprecherunabhängige Spracherkennung; Strukturmechanik; Sedimentpetrographische Übungen; Investitionsplanung I; „Die höfische Liebe in Frankreich und der Platonismus“; „Nähtechnik-Kurse in der Erwachsenenbildung“.
Was blieb? Z.B. das Interesse der Mathematik an bösen Krankheiten; 1991 geht es um „epidemologische Fallstudien“. Und der Atomphysiker Jens Scheer: Unterrichtete er 1973 die „gesellschaftliche Genese der Physik“, so betrachtet er 1991 „Die Marxsche Naturphilosophie als Gegenwartsaufgabe und Zukunftsperspektive“. Im Magister-Studiengang Kulturwissenschaften. Dienstags von 13-15 Uhr. Burkhard Straßmann
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